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Stuttgarter Spuren – später

Dass ich erst jetzt schreibe, am Ende, und nicht früher, hat mit der Form des Weblogs zu tun. Ich bin es gewohnt, Tagebuch zu schreiben, und ich publiziere Texte. Das eine erledige ich handschriftlich, für das andere brauche ich meinen Computer. Tagebuch zu schreiben ist für mich etwas zutiefst Privates, der Adressat bin niemand anderer als ich selbst – die Texte, die ich publiziere, sind fertige Werke (sofern je ein Werk fertig sein kann), sind Ergebnisse, denen man den vorausgegangenen Prozess nicht mehr ansieht, idealerweise. Ein Blog ist die Verbindung von beidem und zugleich ihr Gegenteil: ein öffentliches Tagebuch zum Prozess des Arbeitens, wenigstens der ursprünglichen Wortbedeutung nach. Dass ich diesen Beitrag am Computer tippe (der Versuch, ihn mit der Hand zu schreiben, ist gescheitert), zeigt mir, welcher Aspekt dabei in mir überwiegt, mein Schreiben lenkt: das Faktum der Publikation, das Wissen um Öffentlichkeit – und damit, wie bei mir immer, die Skepsis gegenüber dem Augenblicklichen, dem Unmittelbaren, dem sogenannten Authentischen. Nicht, weil ich den Augenblick nicht wertschätze (das tue ich immer mehr), aber wenn es ums Schreiben für eine Öffentlichkeit geht, empfindet etwas in mir die Notwendigkeit, dem Erlebten Zeit zu geben, es sich im Gedächtnis „setzen“ zu lassen, wenn man so will (ich habe erst kürzlich hier in Stuttgart ein Buch gelesen über das menschliche Gedächtnis). Etwas in mir möchte warten, bis sich augenblickliche Stimmungen und unmittelbare Eindrücke gelegt haben, der Gedächtnisnebel zu einem Ereignis einigermaßen aufgeklart ist, nachdem die vielen einzelnen winzigen, unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Erlebnis- und Erinnerungspartikel zu Boden gesunken sind an den Gedächtnisgrund, ihren Platz an den Synapsen dort gefunden haben und ins Altgedächtnis gewandert oder aber im Nirwana des Vergessens verschwunden sind. Wenn der Nebel sich verzogen hat im Kopf, kann das Schreiben beginnen. Ich kann jetzt also bestenfalls versuchen, einen vorläufigen Endbericht zu schreiben über meine Zeit hier, der zugleich – nachdem mit jedem Abrufen einer Erinnerung ihre Veränderung bewirkt wird – das, was ich später davon erinnern werde, formt und dabei transformiert.

Hätte ich vor, einen Stuttgart-Roman zu schreiben, wäre ich in den letzten Wochen und Monaten sicherlich anders durch diese Stadt gegangen. Aber mit dieser Absicht bin ich nicht hierhergekommen. Wenn ich abreise, werde ich kein „Bild“ gewonnen haben von Stuttgart, sondern lediglich einige Eindrucksmosaike, wie sie vielleicht in einem Stuttgart-Memory zu finden wären – von Schloss und Schlossgarten, dem sich unaufhörlich drehenden Mercedes-Benz-Stern auf dem Bahnhofsgebäude, Inbild schwäbischen Fleißes, dem nachdenklichen Schillerdenkmal, einem Löwen-und-Papageien-Brunnen (der sehr wahrscheinlich ein Löwen-und-Adler-Brunnen ist, was sich mein Kopf aber weigert anzuerkennen), der beeindruckenden Weißenhofsiedlung, der („meiner“) Bibliothek oder dem Gerber, dem Milaneo, den Königsbau Passagen, dem Breuninger oder dem Dorotheen Quartier (wobei fraglich wäre, ob die letzteren Bauwerke, bei denen es sich allesamt um Zweckarchitektur des Hyperkonsums handelt, in einem Memory der Erwähnung wert wären, zumal die Weißenhofsiedlung zeigt, was einmal hier baulich möglich war). Dazu gesellen sich persönliche Erfahrungen, allein oder mit anderen: die augenscheinliche Häufung von Herschel- und mehr noch Fjällraven-Kanken-Rucksäcken (bei deren Anblick ich mich so oft fragte, welche Objekte sie, die heuer offenbar so in Mode sind, wohl ersetzt haben mögen, und was mit diesen ersetzten Objekten geschehen sein mag, ob sie noch in Schränken oder Dachböden ihrer Wiederentdeckung harren oder schon unterwegs sind Richtung Afrika, der Müllhalde des Westens); exquisites Eis, das ich ohne Empfehlung wohl kaum probiert hätte (da die Eisdiele einen englischen Namen trägt); die Begegnung mit einer lebenden Rauminstallation (Kater Karlchen); tief- und weitführende Türrahmen-Gespräche im ersten Stock (während derer die Zeit buchstäblich verflog); ein Abend unter Kollegen mit teuerstem Selbstbedienungs-Chianti und brüderlichem Teilen quadratisch praktischer Schokolade (um deren schwäbische Herkunft ich jetzt erst weiß); die Erinnerung an Paris (Sehnsuchtsort) beim Eugenstaffelsteigen hinauf zum Galatea-Brunnen; „nass bis auf die Haut“ (Freundeskreis) in jede Pfützen zu springen; die von Erwachsenen viel zu wenig in Anspruch genommene und von mir hier wiederentdecke Perspektive des Blicks „von unten durch die Baumkronen in den Himmel“ (der Titel eines schönen Buches, das ich hier gelesen habe); ein Tag in Marbach mit meinen Eltern („bei Schiller und Rilke“); der Besuch bei Hölderlin in Tübingen (endlich). – Was davon vielleicht auf eine Weise einmal Niederschlag finden wird in einem Text, den ich schreiben werde, kann ich heute noch nicht wissen. Potenziell ist alles interessant für einen  Schreibenden. Ein Goethe-Gedicht in der Stadtbahn kann Inspiration sein für eine Szene in einem Roman (wenn das Gedicht, das die Figur in einer anderen U-Bahn einer anderen Stadt zufällig liest, im größeren Kontext Funktion hat, wenn es symbolisch aufgeladen ist, auf etwas über sich hinaus verweist), ein Ausflug nach Marbach kann die (wenigstens in der ersten Begeisterung  als solche empfundene) zündende Idee für das Berufsbild einer Figur bringen, ein Konzertbesuch eine blitzartige Reminiszenz an „früher“, an die Jugend, in Form eines Getränks (Weiß süß), das womöglich deshalb von einer Figur in meinem vielleicht, hoffentlich entstehenden Buch getrunken werden wird.

Wie so oft bin ich auch ein wenig abgelenkt worden von dem Projekt, an dem ich arbeite, und wie so oft hat sich das indirekt als nützlich für die Arbeit erwiesen. Ich bin gereist, hatte Termine, war an Orten und war zugleich nicht dort (kostbare Recherche für die Beschreibung des Lebens als kosmopolitischer Gast auf dem Globus) und ich habe mich für einen Auftragstext mit dem avantgarde-Begriff auseinandergesetzt, und damit auch mein eigenes Schreiben reflektiert, das wahrscheinlich nicht neo-neo-avantgardistisch ist, wohl aber im Zeitalter der Postavantgarde entsteht (eine mögliche Alternative neben dem der Postmoderne), wodurch es natürlich wieder einmal in Gefahr gebracht wurde, aber so muss es wohl sehr wahrscheinlich sein.

Natürlich war Stuttgart auch Alltägliches: Einkäufe im Edeka neukauf (dessen Name sich mir nicht und nicht erschlossen hat – gibt es denn auch einen altkauf?) und im tegut… (was immer das heißen mag), Läufe im Schlosspark (Schwaben laufen furchteinflößend schnell), Theater-, Opern-, Kinobesuche („Beuys“ – sehr gut), Lesungen – und auch Sprache: Wendungen, die ich hier gehört habe (Käpsele, Trikotage oder eine zitternde Sekunde) und die allgegenwärtige Erinnerung an Literatur (Hegel-Haus, Hölderlinplatz, Schiller-Denkmal). Stuttgart werden auch unbesuchte Plätze sein: das Welcome-Center vor der Haustür (das mich täglich an etwas erinnert, worüber ich schreiben möchte, dessen Besuch ich mir immer für später aufgehoben habe, weil die Notwendigkeit einer genaueren Recherche diesbezüglich zu wenig dringlich war in mir), die Schiller-Eiche, von der mir berichtet wurde (obwohl oder gerade weil ich gerade, und diesmal sehr genau, „Die Räuber“ lese), Schloss Solitude (dessen Name den Begriff trägt, der mich über Jahre in meiner Arbeit begleitet hat, jetzt aber in die Vergangenheit gehört). Was Stuttgart tatsächlich mit Sicherheit gewesen sein wird: die Erinnerung an das dankbare Bewusstsein des Vertrauens in meinen im Entstehen begriffenen Text, für den ich hier im SSH sein durfte, in diesem aus der Zeit gefallenen Ort, direkt an der Kreuzung von neun Spuren B14 und B27, eingeklemmt zwischen Dentistendienstleistern und Gebäckmanufaktur, diesem Änderhaus, in dem jeder vorfindet, was er braucht, um zu sich zu kommen.

Viele Fragezeichen schweben noch über dem Text, an dem ich arbeite, aus dem irgendwann vielleicht, hoffentlich mein zweites Buch geworden sein wird, die es zu tilgen gilt, damit am Ende die Fragen, die er stellt, klar und deutlich zwischen seinen Zeilen hervorleuchten. Welche Stuttgarter Spuren sich darin dann finden werden, welche Partikel hinab an meinem Gedächtnisgrund gewandert sein werden und von dort verändert hinein in eine Fiktion, werde am Ende wahrscheinlich nicht einmal mehr ich selber mit Sicherheit sagen können. Aber sie werden da sein, gewiss.

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Friederike Gösweiner
Friederike Gösweiner
Friederike Gösweiner, geboren 1980 in Rum, Tirol, Studium der Germanistik und Politikwissenschaft. Sie arbeitet als freie Lektorin und als Kritikerin (u. a. für »Die Presse«, »Literatur & Kritik«, Literaturhaus Wien). Ihr Roman “Traurige Freiheit” (2016) ist ihr Debüt. Dafür erhielt sie am 8. November 2016 sie den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt. (Autorenfoto: Thomas Larcher)