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Blick zurück und Wiedersehen

Ein Vierteljahr habe ich am Charlottenplatz verbracht, und nun bin ich schon weit länger wieder zu Hause: Vier Monate Zeit haben sich dazwischengeschoben. Nachzutragen sind noch Fotos meiner Ausflüge von dort aus, nach Berlin, Nürnberg und Tübingen. Nachzutragen ist aber vor allem die Erkenntnis, die ich diesem Vierteljahr verdanke: Ich muss eine starke Verwurzelungsneigung haben.

Wenn ich damals für längere Zeit Stuttgart verließ – und „länger“ waren ja immer nur ein paar Tage –, dann fiel mir das Fortfahren jedes Mal schwer. Ich wäre lieber zu Hause geblieben – „zu Hause“: in meiner Wohnung unterm Dach gegenüber der Baustelle, die im Laufe von drei Monaten interessante Geräusche hervorbrachte und sich dabei sichtlich veränderte.

Am letzten Tag bin ich durch die Stadt gelaufen, abschiedsschwer, und habe fotografiert: das Noodle 1, Ort leckeren Essens und intensiver Gespräche mit Astrid Braun; das Literaturhaus, in dem ich die wunderbare Buchvorstellung von Sibylle Knauss‘ „Das Liebesgedächtnis“ erlebt hatte; die Erinnerung an einen Kino-Abend, Pause zwischen Schreibverzweiflung, und noch einen Glückstreffer.

In der letzten Nacht konnte ich nicht schlafen. In meiner Manie festzuhalten, was nicht zu halten war, fotografierte ich ein letztes Mal die in Kürze meistvermisste Baustelle ever – und die Wohnzimmerlampe. Letzte Entdeckung und Vorwarnung für meinen Nachfolger: Sie verwandelt sich nachts in ein Ufo, vermutlich unbemannt, doch ganz sicher bin ich nicht.

Und dann: wäre noch so vieles nachzutragen. Das Tun zum Beispiel. Im Schriftstellerhaus habe ich das Theaterstück beendet, das inzwischen uraufgeführt wurde. Und zur Verzweiflung, bis in die Schlaflosigkeit und den komplettem Stillstand hinein mit dem letzten Text des Erzählbands gerungen, der im August erscheint: mit der Geschichte „Stück Land“, die schon absurd viele Fassungen durchlaufen hatte, alle gescheitert, und von der ich doch, aus unerfindlichen Gründen, all die Jahre nicht hatte lassen können. Unter dem Eindruck der Großbaustelle gegenüber habe ich sie komplett entkernt und, mit nichts in der Hand, noch einmal von vorne angefangen. Ein quälendes Herumstochern im Nebel, Tigern durch meine Enklave unterm Dach, Flüchten ins Café und wieder zurück, bis ich endlich begriff, worum es ging, was ich eigentlich erzählen wollte.

Nachzutragen wäre auch noch eine Rückkehr: Im Juli war ich auf Besuch für einen halben Tag in Stuttgart. Alles war wunderbar vertraut: das Ankommen am Bahnhof, der Gang zum Schlossplatz, das Café Künstlerbund, wo ich mich mit Annette Maria Rieger traf, der Pressefrau des Verlags – Strategietreffen bei Gluthitze – und später mit Astrid Braun und einer Freundin von ihr im unvergesslichen Noodle 1. Es war noch da! Das Feeling für den Ort, die Vertrautheit. Es ist noch nicht vorbei. Im Oktober werde ich zur Lesung wieder hier sein, und das ist überhaupt eine Steilvorlage, meine Rettung: Denn es gibt mir die Möglichkeit, mich aus diesem Blog zu verabschieden, ohne Abschied nehmen zu müssen. Hiermit, herzlich:

Auf Wiedersehen in Stuttgart!

 

Ulrike Schäfer
Ulrike Schäferhttp://www.ulrike-schaefer.de/
Ulrike Schäfer, geb. 1965 in München, lebt in Würzburg. Sie schreibt Prosa, Theaterstücke und Sachtexte zur Literatur und erhielt u. a. den Würth-Literaturpreis und den Leonhard-Frank-Preis für Dramatik. Ihre Bühnenfassung des Romans „Die Jünger Jesu“ von Leonhard Frank wurde 2015 im Mainfranken Theater Würzburg uraufgeführt. Im August 2015 erscheint ihr Erzählband "Nachts, weit von hier" bei Klöpfer & Meyer.