Umbenennung der Erinnerung
Weil ich weiß, dass jeder Text ein Zwiegespräch ist – weil ich weiß, dass Erinnerung ein biegsames, formbares Material ist, das der ständigen Umbenennung und Neuordnung bedarf, setze ich mein Ich aus, verschließe es vor dem Text, um zu ihm zurückzufinden. So fordert es Esther Kinsky im Gespräch mit Angelika Klammer in der Volltext und ich lerne von ihr. Was bedeutet es, das eigene Ich aufzugeben zugunsten eines neuen Ichs, das aus dem Schreibprozess erwächst? Der Prozess muss klar ablaufen, schonungslos.
Nimm dich raus, erwähne dich nicht selbst, sieh von dir ab – lass die eigene Person draußen. So, die Ratschläge von Esther Kinsky an diejenigen, die glauben, vor der großen Aufgabe zu stehen, für ihr Innerstes eine Sprache, eine literarische Artikulation zu finden. Das Eigene herauslassen, um zur eigenen Sprache zu finden, also. Welche Vorstellungen von Innen und Außen ruft Kinsky damit herbei? Wie spricht die eigene Sprache, wenn sie scheinbar vom Privaten befreit werden muss, um zu sich zu finden?
Nun, wo ich eine Laudation auf Esther Kinsky zur Verleihung des Christian-Wagner-Preises 2020 schreiben darf, bekomme ich die Möglichkeit, die Ruhe, mich mit Kinskys Werk gebührend auseinanderzusetzen. Und damit mit der permanenten Frage nach der Deutbarkeit von Erfahrung & Erinnerung. Ebenso mit der Frage nach der Zeitgenossenschaft von Texten.
Wer in der Literatur das Zeitgemäße sucht, fragt vor allem nach einem Angebot, sich selbst mit ihrer Hilfe in einer komplexen vielschichtigen Gegenwart zu verorten. Das Angebot kann hierbei vielgestaltig ausfallen. Es ist ebenso möglich, die eigene Rolle in der Spiegelung einer freien Form als auch innerhalb eines formstrengen Gedichts zu finden; in einem klassisch erzählten Roman wie in einem nichtlinearen unausgeformten Notat. Der literarische Essay über die Literatur des 18. Jahrhunderts wird bei genauem Hinsehen kaum weniger Zeitgenossenschaft beinhalten als eine Auseinandersetzung mit der Aufgabe der Literatur im Kontext kommender medialer Entwicklungen. Voraussetzung dafür ist eine Perspektivwahl, die ein sprechendes sich seiner Lage bewusstes Subjekt zum Ursprung hat aus dessen Blickwinkel heraus die Welt – wie groß oder klein sie auch sein mag – betrachtet wird.
Je mehr ich von Kinsky lese, desto deutlicher wird mir einerseits meine Verwandtschaft zu ihr und andererseits der blinde Fleck, den ich in meinem eigenen literarischen Schaffen, sagen wir „übersehen“ habe. Einen blinden Fleck übersehen? Was übersieht man, wenn man das Nichtsehen übersieht und was gilt es darin zu finden?
Da ist also ein Jemand ganz bei sich angekommen, in dem er auf das Ich verzichtet hat – und das ist mitnichten paradox. Das, was Literatur im besten Fall leisten kann und was Kinskys Literatur zu jeder Zeit leistet, ist die Neuordnung der Dinge, die Umbenennung zum Guten hin, zum Klugen – die Befreiung vom Sentiment hin zum Gefühl. Wer in der zerklüfteten Küste, im elastischen Gestein, im einsetzenden Regen die ungewisse, biegsame, grazile Erinnerung zu erkennen vermag, der wird sie zu formen wissen, den wird Kinsky auf eine Reise zugleich nach Draußen und nach Innen mitnehmen, auf der es unzählige Erfahrungen zu machen und Dinge über sich zu lernen gibt, die man nicht für möglich gehalten hatte.