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Lose Enden

Das Folgende ist eine Auswahl der Notizen, die sich über meine Zeit in Stuttgart angesammelt haben. Ein weiterer unabgeschlossener Versuch, Stuttgart und meine Zeit hier zu beschreiben. So richtig chronologisch sind sie nicht, aber irgendwie führen sie wohl durch meine Zeit.

Vielleicht habe ich tatsächlich damit Recht, dass mir in den letzten Jahren das Singen der Vögel im Frühling aggressiver vorkommt. Ich lese, dass sie in Städten lauter singen als auf dem Land.

Im Rosensteinpark gehe ich immer gegen den Uhrzeigersinn. Zuerst muss ich auf den Neckar hinabschauen.

Es gibt Unfälle. Ich sehe das Blaulicht. Ich sehe nur das Blaulicht. Ich sehe das Blaulicht.

Wie Seiten durch Worte dicker werden.

Fledermäuse vorm Fenster.

Bauen als organischen Wachstumsvorgang.

Bauen als Gärtnern.

Unkraut werden.

Auf dem Marienplatz sitzen junge Menschen in Ringen auf dem Boden und trinken.

Vogel: schwarzer Kopf/Oberkörper, weißer Unterkörper (?), oranger Schwanz.

Regen dreht die Lautstärke auf. Ist das nur in der Stadt so?

Ist Schlamm, wo eigentlich Wasser sein sollte, und Matsch, wo eigentlich Erde sein sollte?

Rhabarber 0,660 kg.

Die unterirdische Kneipe in der Ubahnstation eröffnet die Sommersaison. Draußen-Tische und dazugehörige Hecke aus Plastik inklusive.

Verwunsch-, Verwilderung (oder ist das schlechte Pflege?)

Kurzfristiger Sturm. Dann ist es vorbei. Nur die Fenster zittern noch.

Mein persönliches Stuttgart 21 ist ein Springbrunnen, der noch im Bau ist. Ich beobachte ihn über die drei Monate, in der Hoffnung, dass er irgendwann fertig wird. Ich weiß nicht, ob sich seine Fertigstellung verzögert und er sich extrem verteuert, aber trotz Fortschritten bleibt er am Ende eine Baustelle.

Es gewittert nicht. Ist heiß. Traurige Gänse.

Weiß ich nun mehr über Schönheit?

Morgens riecht es hinterm Haus nach frischem Brot; abends riecht es vorm Haus nach gebratenen Zwiebeln. Die Geräusche folgen den Gerüchen umher oder umgekehrt.

Bin unfähig zu schweben.

Ich weine mit Zeitverzögerung über den abgestürzten Gletscher. Über Menschen, die ihre Häuser verlieren, aber zurück wollen. Über den Glauben an so etwas wie Heimat.

Seit einem Jahr denke ich, immer wenn ich Mohn sehe, an jemanden, mit dem ich studiert habe, weil das seine Lieblingsblume ist. Und an Krieg. An den habe ich auch schon vorher gedacht. An den Boden, der das Blut trinkt und Mohnblumen gibt. Wahrscheinlich würde ihm diese Verbindung gefallen.

Meine Wohnungswünsche sind nicht größer als ein Bluetoothradius.

Die Brücke habe ich schon dutzende Male überquert, aber dieses eine Mal spüre ich, wie sie unter jedem Schritt schwingt. Meine Beine werden weich.

Irgendwann bin ich offen für Abenteuer und gehe bewusst im Uhrzeigersinn durch den Rosensteinpark. Als ich am Ende auf den Neckar schauen kann, komme ich an einem Pferdetransporter der Polizei vorbei. In Stuttgart kommt es mir so vor, als würde die Polizei viel Präsenz (in Parks) zeigen. Streifen in Autos verschiedener Größe, auf Motorrädern, auf dem Fahrrad, zu Fuß. Nur auf Pferden hatte ich sie noch nicht gesehen. Zumindest die Pferde sind wohl vorhanden. Die Polizist*innen sitzen vorne im Transporter, machen Pause. Die Pferde schnauben.

Am Gebäude gegenüber sammeln sich die Abdrücke der Tauben.

Heute warte ich auf das Gewitter.

Ich weiß nicht, wann es angemessen ist, anzufangen, sich zu verabschieden.

Der Klang von blühenden Linden.

Sommerregen.

Die letzten Tage, seit ich mit dieser Zusammenstellung angefangen habe, möchte ich sie nur weiter und weiter fortsetzen. Mehr hinzufügen. Wie kann ich aufhören? Wie kann diese Zeit zuende gehen?

Wenn ich sage, dass ich eine schöne Zeit in Stuttgart hatte, verbinde ich das mit dem Hinweis, dass die Art, wie ich Stuttgart kennengelernt habe, warum und wie ich hier war, es mir sehr einfach gemacht hat, die Stadt zu mögen. Im Grunde hat es sich angefühlt, wie ein langer Urlaub.
Eine Freundin sagt dazu, dass es schön ist, wenn sich mein künstlerisches Arbeiten wie Urlaub anfühlt. Davon könne man ja nur träumen.
Natürlich fühlt es sich nicht immer so an, aber hier, in einer anderen Stadt, an einem schönen Ort, ohne Deadlines, kommt es sehr nah dran.

Danke und auf Wiedersehen.

Miriam Bornewasser
Miriam Bornewasser
Mit der gerade einmal 25-jährigen Dichterin Freya Miriam Bornewasser erhält ein Nachwuchstalent das Stuttgarter Lyrik-Stipendium. Sie wird von April bis Juni 2025 unter unserem Dach wohnen und arbeiten. Miriam Bornewasser hat schon zwei Gedichtbände im Geest-Verlag veröffentlicht, dazuhin ein abgeschlossenes Kunststudium an der Düsseldorfer Akademie vorzuweisen.