Kaum steige ich am Hauptbahnhof aus, begrüßt mich Elias M’Barek.
Lässig hält er drei Finger der rechten Hand in die Höhe und lächelt charmant, seine Zähne von strahlendem Weiß.
Natürlich ist es nicht der echte Elias M’Barek. Sondern eine von zahlreichen Dubletten, die hier auf Plakatwänden die BesucherInnen in Empfang nehmen und für eine Versicherung werben.
Und natürlich ist es nicht der echte Hauptbahnhof, sondern diese Dauer-Dublette, dieses Provisorium, das einmal Stuttgart 21 werden soll, auch wenn es davon im Jahr 2023 noch immer meilenweit entfernt ist. Aber das können die StuttgarterInnen natürlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr hören. Ich habe da vollstes Verständnis, ich lebe in Brandenburg. Und kenne das leidvolle Lied zu Genüge, von unserem berühmten Hauptstadtflughafen. Mein einziger Rat daher: Streicht diesen Bahnhof für immer aus Euren Köpfen. Findet Euch damit ab, dass er nie fertig werden wird. Das ist die einzige Chance. Erst wenn man komplett aufgegeben hat, wenn man gar nicht mehr damit rechnet, dann wird er, vielleicht, doch noch vollendet.
Jetzt jedenfalls laufe ich gefühlte drei Kilometer durch ein eigenartiges Labyrinth aus Schrägen, ein wenig M.C.Eschermäßig, eingerahmt von Bretterwänden, alle beklebt mit Elias M’Barek, der diese Drei-Finger-Geste macht, Zeige-, Mittel- und Ringfinger ausgestreckt. Kennt man als Zeichen der Revolution gegen die Herrschenden, seit dem Film Hunger Games. Ein Scherz der Versicherung, frage ich mich? Und viel früher, so habe ich mal gelesen, war dies bereits der Gruß der internationalen PfadfinderInnenbewegung. Das passt schon eher. Ich befrage schließlich google Maps nach dem Weg zur U-Bahn, und finde ihn nach einer Weile tatsächlich auch.
Zwei Stationen später ziehe ich meine beiden Koffer die Rampe am Charlottenplatz hoch, den es anschließend zu überqueren gilt. Stuttgart ist eine Autostadt, hat man mich gewarnt. Tatsächlich brauche ich drei Grünphasen, um die drei Segmente der breiten Straße zu überqueren. Sowas würde man in Berlin nicht mitmachen.
Das Schriftstellerhaus erkenne ich gleich, als ich in die Kanalstraße biege. So schön alt und klein. Man sieht die gefüllten Bücherregale von der Straße aus. Das gefällt mir. Ich werde herzlich begrüßt und beziehe meine kleine Wohnung in der obersten Etage. Die Treppe, die die kleinen Stockwerke miteinander verbindet, knarzt jedes Mal ein wenig anders, als ich meine Sachen hochtrage.
Später sitze ich am Schreibtisch, unter dunklem Gebälk in diesem schmalen vierhundert Jahre alten Haus. Wenn ich aus dem Fenster schaue, fällt mein Blick auf einen riesigen, modernen Stahlglaskasten, das „Zahnservicecenter“.
Ich werde mich hier mit Sprache beschäftigen, und gegenüber wird das Maul gerichtet.
Das gefällt mir.