„Kein Eisen vermag so schneidend kalt ins menschliche Herz zu dringen wie ein zur rechten Zeit gesetzter Punkt.“ – Nur wenige Autoren setzen diese ebenso kluge wie kompromisslose Beobachtung so meisterhaft um wie derjenige, von dem sie stammt, der in Odessa geborene Isaak Babel (1894–1940). Ein Meister der leisen Töne, der genauen Beobachtung und ausgestattet mit einem atemberaubend präzisen Gespür für Komposition, hat Babel vor allem Erzählungen geschrieben. Auf Deutsch gibt es sie gesammelt und hervorragend ediert zu haben; unter dem Titel Mein Taubenschlag in der edlen Reihe „Hanser Klassiker“.
Die Erzählung, in der sich das obige Zitat findet, trägt den Titel „Guy de Maupassant“. Vordergründig geht es darin um einen jungen Schriftsteller, der von einer reichen Frau engagiert wird, ihr bei der Übersetzung Maupassants ins Russische zu helfen. Nur, so stellt sich schnell heraus, versteht die Frau nichts davon, weder von der Literatur, noch vom Übersetzen. Was dagegen seine volle Wirkung entfaltet, sind die Geschichten Maupassants selbst, besonders seine Schilderungen menschlichen Begehrens – die beiden sind derart hingerissen, dass sie eine Affäre beginnen. So mühelos, so leichtfüßig und erotisch kommt diese Erzählung daher, dass man fast übersieht, dass darin nicht weniger stattfindet als eine existentielle Auseinandersetzung mit der Literatur selbst, mit ihrer Wirkung und der Magie, die sie entfaltet bei jenen, die sich für sie zu begeistern wissen.
Berühmt geworden ist Babel mit seinem Erzählzyklus Die Reiterarmee (1924), der auf seinen Erfahrungen als Kriegsreporter an der russischen Front im Polnisch-Sowjetischen Krieg beruht. Was eigentlich ein Loblied auf die erstarkende Sowjetmacht werden sollte, ist bis heute ein eindrucksvolles, erschütterndes Dokument der schieren Brutalität, die das Kriegsgeschehen zutage fördert, und ein Lehrstück darüber, wie schnell sich hehre Ideen auf dem Schlachtfeld in blutigen Staub verwandeln. Diese Erzählungen haben Babel – damals einer der gefeiertsten Sowjet-Schriftsteller – nicht nur Freunde eingebracht, und tragischerweise auch den Weg für sein Ende geebnet; 1940 wurde er im Zuge der „Stalinistischen Säuberungen“ hingerichtet.
Einer der großen Gewinne dieses Buches, das sein gesamtes Erzählwerk versammelt, ist, dass man Babel auch jenseits dieser Kriegserzählungen kennenlernen kann, in der gesamten Bandbreite seines Schaffens. Da sind beispielsweise die wunderbaren Geschichten, die lose auf seinen Kindheitserinnerungen beruhen, aufgewachsen ist er als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Odessa, und die getragen sind von einem enormen Einfühlungsvermögen in die kindliche Sicht auf das Chaos des Lebens. Und seine (kurze) Zeit in Paris hat Babel zu einigen seiner überhaupt schönsten Erzählungen inspiriert, etwa „Rue Dante“, in der der junge Ich-Erzähler ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert ist vom lautstarken Liebesleben seiner gleichaltrigen Pariser Bekanntschaften.
Mir persönlich liegen besonders diejenigen seiner Erzählungen am Herzen, in denen sich Babel, der sich selbst gern als „fröhlichen Mops“ bezeichnet hat, auf seine unterhaltsame und doch zugleich tiefschürfende Weise mit der Literatur und dem Schreiben auseinandersetzt. Neben der oben erwähnten Geschichte über die aus dem Ruder laufende Maupassant-Übersetzung ist das zum Beispiel die Erzählung „Mein erstes Honorar“. Ein junger Schriftsteller, der bislang noch nichts veröffentlicht hat, wagt sich darin zum ersten Mal in ein Bordell. Er ist aber derart überfordert von der Situation, dass er beginnt, der Prostituierten eine Geschichte zu erzählen, in der er sich selbst als Callboy fabuliert, dem das Leben übel mitgespielt hat. Zutiefst angerührt von der darin zutage tretenden menschlichen Tragik beschert ihm die Prostituierte eine rauschende Liebesnacht und weist anschließend die ursprünglich vereinbarten zehn Rubel ab – die damit zum ersten Honorar des angehenden Schriftstellers werden.
Als Leser ist man schnell versucht, Babels Erzählungen als autobiografisch hinzunehmen – und nicht wenige tun das auch. Wenn man seine Geschichten aber aufmerksam liest, dann wird deutlich, dass dem Autor hier der Schalk im Nacken sitzt und er ein sehr bewusstes Verwirrspiel betreibt. Oder, wie Babel es selbst ausdrückt: „Eine gute Geschichte braucht nicht dem wirklichen Leben zu gleichen; das Leben müht sich mit aller Kraft, einer gut erdachten Geschichte zu gleichen.“
Es macht herrlich viel Spaß, sich diesem Fabulieren auszusetzen.
Isaak Babel, „Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen“, übersetzt v. Bettina Kaibach und Peter Urban, München, Carl Hanser Verlag 2014, 852 Seiten, 45 Seiten