Wieso fällt es (mir) schwerer Texte zu überarbeiten, als sie zu schreiben?
Die Zahl der Gedichte in meinen Notizbüchern wächst, wenn nicht total regelmäßig so doch beständig und häufig sprunghaft. Spaziergänge durch den Schlossgarten und Rosensteinpark scheinen sich besonders zum Schreiben anzubieten. Warum? Keine Ahnung. Vielleicht liegt es an der Vielzahl der Bänke, die erlauben Gedanken durch Aufschreiben loszuwerden und so die Tür für neue Inspiration zu öffnen. Aber das kann nicht alles sein.
Jedenfalls schreibe ich mehr und mehr Gedichte, während ich das Durchschauen und Überarbeiten, das ich geplant hatte, nach hinten schiebe.
Dabei geht es mir erst einmal um nichts Außergewöhnliches. Ich möchte die Gedichte nach einigen wiederkehrenden Themen durchschauen, Schlüsselbegriffe markieren und dann … ja, und dann mal schauen, was passiert.
Ich kann mir nicht vorstellen, die Texte, die ich gerade schreibe, einfach chronologisch anzuordnen, sondern fände es viel interessanter, ein Geflecht zu erschaffen. Und zum Flechten muss man zuerst die Haare, Fäden, Fasern ordnen.
Ich weiß nicht, ob der Wunsch, Text in seiner sichtbaren Form zu gestalten, mit meinem Künstlerinnen/Autorinnen-Dasein verbunden ist. Ich weiß nie, in welcher Reihenfolge ich mir diese Label geben soll. Autorin/Künstlerin? Künstlerin/Autorin? Müssen es überhaupt beide sein?
Die Grenzen zwischen Kunst und Literatur sind für mich keineswegs so geradlinig wie ein „/„ nahelegt. Sofern sie überhaupt existieren, verlaufen sie fließend. Vor das Wort „Kunst“ lassen sich viele Worte1 setzen, um eine bestimmte Richtung anzuzeigen. Wird dann das K.-Wort zum Oberbegriff, der alles einschließt?
Die freien Künste der Antike umfassten zwar etwas, aus dem sich Literatur zusammenbasteln lässt2, aber die freie Kunst im Sinne der visuellen Kunst, die wir heute kennen, musste sich erst ihren Weg dorthin erkämpfen. Sie musste sich von ihrem „technischen“ Status der Auftragsarbeiten befreien, um zu ihrem freien Status, der oft auf finanziell unsicheren Füßen steht, zu kommen. Wie komme ich zu diesen wenig weltbewegenden Ausflüchten? Ist es bloß ein weiterer Weg, um das Überarbeiten meiner Texte vor mir herzuschieben?
Egal, woher es kommt, egal, wie genau man die Verbindungen zwischen Worten und visueller Kunst sehen möchte, für mich, die ich mit einem Fuß in der bildenden Kunst und mit einem Fuß in der Literatur stehe, wird es immer schwieriger, den allgemeinen Strukturen, die Texte in Büchern haben, unhinterfragt zu folgen. Manchmal kippen Texte aus der Horizontale in die Vertikale3. Manchmal verstecken sie sich zwischen transparenten Seiten4 oder werden, was auch immer aus meiner Verflechtungsidee für das aktuelle Projekt wird, mit sich geschehen lassen.
All das, was ich mit meinen Texten tue, ist vielleicht experimentell oder möglicherweise außergewöhnlich, aber keineswegs noch nie dagewesen. Konventionen, wie Texte und Bücher aussehen, haben sich im Laufe der Zeit etabliert und seit ihrer Etablierung, die natürlich auch nicht starr ist, spielen Literat*innen/Künstler*innen mit den Grenzen. Was ist noch ein Text? Was wird noch als Buch begriffen?
Die mehr oder weniger Uniformität von Büchern ist wohl auch zu großen Teilen mit maschineller Vervielfältigbarkeit und Vermarktbarkeit begründet. Sogar typische Buchgrößen5 ergeben sich auch daraus, dass die Seiten mit möglichst wenig Papierverschnitt zugeschnitten werden können. Aber selbst ohne zu sehr von der Buchform abzuweichen, lässt sich mit Format6, Schrift7, ihrer Ausrichtung8, Farben9 und allen möglichen anderen Variablen spielen.
Und eben diese grenzenlosen Möglichkeiten sind es wohl, die mich bei meinen Bearbeitungen paralysieren. Welche der Konventionen möchte ich aufbrechen und warum? Wie weit von der Norm abweichen?
Und dann ist da natürlich noch die Zeitlichkeit. In welcher Reihenfolge sollte was verändert werden? Beim Bearbeiten des Buchs, wo der Text manchmal hin und her kippt oder Bilder malt10, habe ich sehr schnell festgestellt, dass es nur mehr Arbeit macht, parallel am Wortlaut und dem Auftreten des Texts zu arbeiten.
Andererseits ist es auch wenig ansprechend, einen Text konventionell zu schreiben, und dann im Nachhinein zu versuchen, ihn in eine Form zu zwängen, die gar keine Grundlage in ihm hat. Es bedarf für meinen Prozess einer ideellen Parallelität von Inhalt und Form (in ihren verschiedenen Bedeutungen).
Vielleicht möchte ich mich noch nicht festlegen mit lehr mich Spiegelschrift. Ich kann mir verschiedene Arten vorstellen, die Gedichte zu verflechten, aber vielleicht muss ich mit dem Sammeln weiter dem Ende entgegen gehen, bevor ich wirklich mit dem Verknüpfen beginnen kann. Und aktuell fühlt sich mein Sammeln noch nicht endlich an. Aber wie finden sich überhaupt Enden?
Ps.: Tendenziell habe ich in diesem Blogbeitrag von Texten als Büchern oder zumindest potenziellen Büchern geschrieben. Selbst das ist natürlich eine Konvention, die sofern sie jemals bestanden hat, gebrochen wurde und wird. Das Digitale bietet dafür nur eine von vielen Möglichkeiten.
1 z. B. „Wort“
2 Rhetorik + Grammatik + Logik
3 Ich lasse mich treiben, lasse mich von raschelnden Feldern in Wälder verführen, die ihre Blätter schon jetzt verlieren. Ich wandere umher, fahre Fahrrad.
4 Das Haus begrüßte mich mit einem leisen Seufzen, wenn ich die Tür öffnete.
5 z. B. 13 x 20 cm
6 s. Codex Gigas
7 s. Jaroslaw Kozlowski, Reality
8 s. Mark Z. Danielewski, House of Leaves
9 s. Michael Ende, Die unendliche Geschichte
10 Im Moor fand ich eine Schlange
Ringelnatter
vielleicht
11 Die Papageien begegnen mir nicht mehr. Liegt es daran, dass sie mit dem sich verfrühenden Sonnenaufgang früher aufstehen und schon unterwegs sind, wenn ich Laufen gehe? Oder sind sie noch da, aber weil die Platanen nun voll begrünt sind, sind sie besser getarnt?
12 Anzahl der Bänke ≠ geschriebene Gedichte
13 Auf einem Stein steht ein Graureiher. So weit so normal. Er hat seine Flügel nach vorne verdreht und aufgefächert. Sie formen eine Schale vor seiner Brust. Er sonnenbadet, denke ich. Ich hatte nicht gewusst, dass Reiher ihre Flügel so verrenken können. Es sieht unnatürlich aus. Zuerst hatte ich ihn für eine sehr merkwürdige Statue gehalten.
14 Verloren gegangene bzw. gefundene Schlüssel als Umrandungen auf Papier. An Laternenpfähle gebunden. Wie oft finden sie ihre Besitzer*innen wieder?
15 Sie lösen sich wieder und wieder aus ihrer Klammer, müssen ständig neu hochgesteckt werden.
16 Meine Finger versuchen sich mal wieder im Sticken. Es braucht Zeit.
17 Es ist die Jahreszeit, in der Bäume ihren Flaum verlieren.
18 Auf einem Schild steht Lebensgefahr in Anführungszeichen. Seitdem ist mir die Verwendung von ihnen sehr suspekt. Was ist der Unterschied zwischen Lebensgefahr und „Lebensgefahr“? Ich weiß, welche von beiden ich ernster nehme.
19 Im Literaturmuseum in Marbach steht zu dem Vor dem Gesetz-Manuskript, dass Kafka, während er an ihm gearbeitet hat, zur Abwechslung einmal glücklich war.
20 Mittlerweile zeichnet sich die Sonne an meinen Knöcheln ab. Ich kann sehen, wo meine Socken enden und die Sonne beginnt. Ich habe keine Sandalen mitgebracht.
21 Die Wanderwege verraten mich manchmal. Ich folge ihnen, verliere sie. Liegt es an mir? Liegt es an schlechter Ausschilderung?
22 Ich habe hier keinen Backofen, aber kann die Rhabarbersaison nicht einfach an mir vorüberziehen lassen, also koche ich Rhabarberpudding und löffel ihn mit ein paar eingestreuten Amarettini.
23 In Deutschland gibt es je nach Region immer andere Länder, die so nah liegen, dass sie sich als Ausflugsziele fast aufdrängen. In meiner Heimat (sowohl gebürtig, als auch aktueller Wohnort) sind die Niederlande nie weit weg. Hier drängt sich Frankreich einem fast auf. Im Zug höre ich dann außerdem, wie sich zwei Frauen darüber unterhalten, in den Urlaub nach Italien zu fahren. Das wären ja nur sechs Stunden Fahrt. In meinem Kopf ergibt das keinen Sinn. Sechs Stunden Richtung Süden ergeben für mich wenn überhaupt Stuttgart.
24 Erst als ich auf Fotos von Anfang April in Stuttgart schaue, wird mir klar, wie sehr sich meine Umgebung in den letzten zwei Monaten verändert hat. Natürlich weiß ich noch, dass die Bäume kahl waren, als ich ankam. Aber wie jedes Jahr gewöhnt man sich zu schnell an den Status Quo und nimmt all die graduellen Veränderungen nur wahr, wenn man dazu gezwungen ist.
25 Ich wollte mir eine Anekdoten zum Sammeln einfallen lassen, aber stattdessen dachte in an Ursula K. Le Quin, The Carrier Bag Theory of Fiction.
26 Es ist möglich, dass die aufziehenden Wolken freundlich sind. Es ist möglich, dass es trocken bleibt. Es ist möglich, in ihnen Gedichte zu finden.