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Yevgeniy Breyger: “Das Reservat, worin haust die Poesie und im Spiegel haust der Mensch”

Diese Rede zum Wesen der Poesie hält der Lyriker und Ex-Stipendiat Yevgeniy Breyger anlässlich unserer Jubiläumsfeier am 18. September 2023 im Hospitalhof Stuttgart

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Die innere Wahrheit des Gedichts ist ein fremdes Tier. Das Tier hat zwar eine tierische Gestalt, ähnelt aber der Sorte von Menschen, die Tieren ähneln. Das Innere solcher Menschen ist nach Außen gekehrt. Sie tragen ihr Glück, wie auch ihr Verderben im Gesicht. Ihr Körper stellt die Summe ihrer Laster dar, der negativen, wie auch der positiven. Krankheit, Gesunden, Misserfolg, Verzückung, Erregung, Taumel, Passion, Leiden, Neigung, Rausch, Entbehrung. Hinzu kommen Bewegungen, Dynamik, der taumelnde Gang nach dem Überbringen einer entscheidenden Nachricht, der verzückte Augenaufschlag beim Hören des erhofften Kompliments, das rauschhafte Öffnen und Schließen der Hände der unglücklich Verlassenen in Momenten in denen sie ihre Einsamkeit begreifen, der in Falten eingebrannte Misserfolg harter Arbeit, die naive, glatte Haut der Gesunden, die bei jedem Lichteinfall stets im richtigen Maß vornehm verblasst oder glänzt, wie um zu sprechen.

Beim Tier Innere Wahrheit verhält es sich komplexer, nicht jede Regung ist der Erscheinung ablesbar, etwas Dunkles liegt der Gestalt inne, ein dunkles Knäuel, das dunkel strahlt und älter ist als ein Menschenleben, älter gar als das Zeitalter des Menschen. Es lohnt sich, das Knäuel zu streicheln. Das Knäuel entwirrt sich, macht sich los, aufgeknotet, aufgedröselt, im besten Sinne auseinandergerissen-gelöst spricht es die einzige Rede, die wahr scheint. Es verrät seinen Namen .زھراء*.

Der Name wurde von keinen Eltern vergeben, schon gar nicht von einem Gott, das Knäuel selbst wählte den Namen für sich aus. Es ist ein winziges armes Knäuel, das offen daliegt, aber in ihm pulsiert die Kraft des Worts. Die Kraft des Worts hat kein Anliegen, keine Richtung, keinen Verstand. Wenn ein Ziel auftaucht, trifft sie dennoch. Was aber ist das Ziel? Was taucht auf und nimmt seinen ersten Atemzug an Luft? Was war nicht bereits schon immer da, sondern existiert nur plötzlich, auf Abruf, bei Bedarf, birgt beim Erscheinen den Hauch des Verschwindens? Wen durchbohrt der Pfeil des Worts immerzu neu? – „Ich bin Злата*“, stellt sie sich vor, „ich erhielt den Namen bei meiner Geburt, ich lebe und sterbe fortwährend hin und mit jedem meiner Tode wird mein Name vergessen.“ Sie zieht den Pfeil des Worts aus ihrem Rumpf, leckt die Wunde sauber, die augenblicklich verheilt und putzt ihr Fell. Злата*.

Злата* hat riesige Ohren und eine winzige Nase, sie hat eine wunderschöne hohe Stirn, kreisrunde Augen und Haar wie Kronen von Ahornbäumen. Wer sie ansieht, verwandelt sich von Stein zu Fleisch. Sie ist die Gegenspielerin des Sumpfs des Verstumpfens, das Seiende, wie es ist, das unverschlüsselte, rohe Leben, das eben, was geschieht, unabhängig der Perspektive, egal ob im Richtstrahl oder abseits des Blicks. Злата unterliegt keiner Deutung, denn sie muss nicht gedeutet werden. Sie ist nicht das Taumeln des Gangs nach dem Überbringen der Botschaft, sie ist die Botschaft.

Ganz im Osten, wo die Sonne, wenn sie aufgeht, weiß ist, wie Schnee, liegt an einer Klippe ein Skelett eines großen Vogels. Das ist زھراء*. Aus den Gebeinen wachsen Blumen. Neben dem Skelett liegt die Karosserie eines ausgebrannten Panzers. Das ist Злата*. Aus ihr wächst eine Flamme. Genau jetzt steht die Sonne im günstigen Moment und der Schatten des ehemals Vogels könnte in größter Länge auf den ehemals Panzer fallen, doch die Flamme lodert zu grell. Das Licht verschluckt die Dunkelheit, das Leben verschluckt das Wort. Zwei Menschen bedienten den Panzer, der eine lenkte, der andere schoss. Der Panzer patrouillierte an der Grenze und sollte die Menschen vor den Metaphern bewahren. Der Fahrer lenkte gen Osten, der Schütze schoss gen Süden. Der Fahrer lenkte gen Westen, der Schütze schoss gen Norden. Schließlich lenkte der Fahrer den Panzer an eine Klippe, damit sich der Blick des Schützen bis weit zum Horizont erstreckte. In der Wolkendecke über ihnen klarte eine winzige kreisrunde Öffnung auf und ein Körper fiel durch die Öffnung auf sie hinab, ein Marschflugkörper mit dem Namen Искандер, 9K720**, fiel durchs Loch auf den Panzer und zerriss die Körper des Fahrers und des Schützen mit den Namen Матвій und Катерина Іванівна***. Der Panzer bewahrte die Menschen für eine kurze Zeit vor den anderen Menschen. Weil Mord keine Metapher ist, bitte ich um eine Minute Ruhe.

Und die Zeit verging. Und die Metapher befiel als Krankheit die Bilder. Der Mensch macht sich ein Bild von sich selbst und schreibt ein Gedicht mit den wahrsten Worten, die er kennt. Doch das Knäuel will sich nicht recht fügen, verknotet sich zurück in seine ursprüngliche, undurchsichtige Gestalt. Das Tier Innere Wahrheit verschluckt das Knäuel und gibt sich den Deutungen frei. Warum? Warum schon wieder? Ich wende mich, ich drehe mich, ich lüge mich an, ich will verstehen, ob Bild und Gegenstand voneinander trennbare Wesen sind und – Wie zynisch ist es in Karosserien brennender Panzer Vogelskelette zu sehen?

زھراء* trifft Злата* ins Mark, doch Злата* bleibt unverwundet, denn Wunden verlangen Dauer und Злата* wird immerzu wiedergeboren, im Moment, in dem sie stirbt. Das Senden und Empfangen des Pfeils entlocken beiden Neugierde und sie kommen miteinander ins Gespräch.

„Das Leben schlägt das Gedicht“, sagt das Gedicht.
„Nein, wir sind ein und dasselbe“, sagt das Leben, „ein und dieselbe“. „Nicht immer“, sagt das Gedicht, „da gibt es die Wahrheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Wahrhaftigkeit. Die Wahrheit mag sich im Stil ausdrücken, die Wahrhaftigkeit findet sich hingegen in der Form. Wo die Wahrheit privat ist, ist die Wahrhaftigkeit persönlich.“

Das Leben überlegt: „Wir haben eine Autorin, die an einem Gedicht schreibt. Die Autorin verfügt über ausgezeichnetes Handwerk. Die Form, die sie als Abbild, als Repräsentation für den Gegenstand findet, den sie bearbeitet, ist organisch, Form und Gegenstand werden ein einziges, greifbares, wahres Gebilde. Beim Schreiben des nächsten Gedichts verlässt sie sich auf die gefundene Form und führt das noch einige Male, einige Gedichte fort. Es entsteht ein Zyklus. Kann das ein Zyklus wahrhaftiger Gedichte sein, wenn die Form ursprünglich einen einzigen anderen kleinen Gegenstand beschrieb?“

Das Gedicht: „Möglich wär‘ es. Mit Abstrichen. Eine Wahrheit fände Platz, die eine neue Aussage träfe über die Autorin und ihr Verhältnis zum Fund.“
„Wie lange ließe sich so weiterschreiben?“, fragt das Leben, „auf ein Buch gesehen, oder noch schlimmer, auf ein Werk, verkäme die Form nicht zum Stil? Immer mehr, immer weiter schriebe die Autorin an sich selbst. Stil ist Narzissmus, Stil ist Selbstbelügen, er kann weder wahrhaftig sein noch klug.“ زھراء* stimmt zu.

„Autorinnen, die den Gedanken verfolgen, an einem Werk zu schreiben, sollten umso mehr bei jedem Buch, bei jedem neuen Gedicht auf die Suche nach der wahrhaftigen Form des Gegenstands gehen und ihren Stil immer und immer aufs Neue vergessen.“, sagt Злата*.
„Wir sind uns im Grunde einig“, sagt زھراء*, „über die Dauer zeigt sich, wie standfest die Wahrheit war, die auf kurze Sicht strahlend glänzte. Genauso könnte sich bloß das erste Gedicht der Autorin als wahrhaftig entpuppen, das restliche Werk, wie gut auch das Handwerk sein möge, als plumper Manierismus, Manie.“

„Manie“, sagt Злата*, „Manie liegt gleich neben der Metapher. Wo das Leben ist, brennt es, es brennt unmetaphorisch, in realen Flammen, für Manie ist dort kein Platz.“

Die innere Wahrheit des Gedichts ist ein seltsamer Mensch. Der Mensch kann nicht aufhören zu lügen und rudert fortwährend mit den Armen. Er ist ein politisches Tier, obwohl ihm Politik fremd ist. Er liebt alle Tiere, also auch den Menschen. Wie das Gedicht, braucht der Mensch ein Haus. Er braucht einen Körper, darin zu wohnen. Er muss achtsam sein mit seinem Körper, vorsichtig. „Pass auf dich auf!“, will man ihm zurufen. „Das Leben findet im Gedicht statt”, sagt das Leben. „Nein, Leben ist immer außerhalb”, sagt das Gedicht, „Ich bin bloß. Ich bin bloß ein Reservat.” © Yevgeniy Breyger

*Sahra arabisch und Zlata ukrainisch = ein- und dasselbe
**Name der Rakete (Iskander)
*** 2 Namen: Matvij und Katerian Ivanivna

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