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Kathrin Schmidt: „sommerschaums ernte“

Kathrin Schmidt, die diese schöne Dachstube des Stuttgarter Schrifttellerhauses zwei Jahre vor mir bewohnte, hat im vergangenen Herbst einen neuen Gedichtband herausgebracht, den ich lese, was ein wunderbarer Zufall ist.

Es war sehr schwierig, ein Gedicht auszuwählen (was ich machen wollte, um auf den Band aufmerksam zu machen). Am besten sollte man den Band in die Hand nehmen und von der ersten bis zur letzten Seite lesen.

Blick in eine (noch) geschlossene Buchhandlung
Blick in eine (noch) geschlossene Buchhandlung Fotos: Olga Martynova

Da ich nicht gegen © verstoßen will, tippe ich jedoch nur ein Gedicht ab, aber wie gesagt, am besten einfach das Buch besorgen (die Buchläden sollen wieder geöffnet werden, verspricht man!) und lesen.

Ich habe dieses Gedicht ausgewählt, weil in ihm die trostlose Verlassenheit alter Fabriken und die Unsichtbarkeit der weiteren Geschichten ihrer einstigen Mitarbeiter, „des buchhalters oder der näherin, der putzfrau oder des einbläsers“, zu einer mythischen Erzählung werden, in der versunkene Welten, durchsichtig, fragil und poetisch, weiterleben.

 

werkswesen

in verlassnen fabriken kümmern die werkswesen vor sich hin,

spalten manchmal noch holz, hängen die verblichenen kleider

in den wind, der durchs dach geht. oder sie öffnen

alt gewordene büchsen für ihre bescheidenen mahlzeiten,

die sie dann kauernd verzehren. ihre gemeinschaft

wird kleiner, sie haben zu sterben begonnen, als der letzte

durchs tor ging. nicht abschloss. die werkswesen tragen

züge des buchhalters oder der näherin, der putzfrau

oder des einbläsers. sie halten an ihnen fest, solange

sie können. kommt abriss, fliehn sie auf andere dachböden.

legen zusammen, dem letzten tag einen stützstrumpf zu kaufen,

den er noch überstreift, ehe er sie verlässt und kantinengelaber

endgültig mit ihm geht.

Aus: Kathrin Schmidt: „sommerschaums ernte“. Gedichte. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 108 S., geb., 20 €.

Olga Martynova am Schreibtisch in der Stipendiatenwohnung
Am Schreibtisch in der Stipendiatenwohnung
Olga Martynova
Olga Martynova
Olga Martynova ist von Februar bis Ende April 2021 Gast im Stuttgarter Schriftstellerhaus. Sie erhält das Lyrikstipendium des Schriftstellerhauses für ihren Zyklus “Speranza”, der in einen geplanten Lyrikband einfließen soll. Olga Martynova, 1962 in Sibirien geboren, aufgewachsen in Leningrad. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jujew (1959-2018) nach Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen in russischsprachigen Periodika, vier Lyrikbände. Ihre Gedichte sind ins Deutsche, Französische, Schwedische, Italienische, Serbische, und Englische übersetzt. Seit 1999 schreibt sie Buchbesprechungen und Essays für deutschsprachige Medien (u.a. Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung).