Selina Böttcher: „Schattengedanken“
Sie beißt in den matschigen Muffin, den sie für zu viel Geld in der Konditorei um die Ecke gekauft hat. Er schmeckt, als bestünde er mehr aus künstlichen Lebensmittelzusätzen als aus Mehl, und die weiße Creme auf seiner Oberfläche hinterlässt einen klebrigen Film auf ihrer Oberlippe. Das weiche Papier des Muffinförmchens dellt sich unter ihren Fingernägeln ein, als sie ein zweites Mal in das Gebäckstück beißt, aber ihre Wahrnehmung konzentriert sich nicht auf das zermatschte amerikanische Etwas in ihrer Hand. Gedankenverloren lässt sie unter ihren schweren Wimpern Blicke über das Kopfsteinpflaster gleiten. In dem unebenen Muster tun sich hin und wieder etwas breitere Lücken auf, in denen dann verkümmerte kleine Blümchen ihr Glück versuchen.
Irgendwie poetisch, denkt sie, wie eine Metapher für unsere Gesellschaft.
Ist sie einer der geraden Steine, die sich regelkonform an die Anderen schmiegen und ihrem grauen Alltag nachgehen? Oder ist sie so ein krummer Stein, der sich nicht an die Ordnung hält, nach hinten oder zur Seite nachgibt, um wenigstens zu versuchen, einem traurigen kleinen Stängelchen Platz zu machen? Sie weiß es nicht und beißt wieder in den Muffin. Der nur halb durchgebackene Teig klebt richtig am Gaumen und lässt sich ganz schwer schlucken.
Etwas pikiert wendet sie den Blick vom Pflaster ab und fixiert stattdessen die kleine Kirsche auf ihrem Muffin. Sie ist bei genauerem Hinsehen eigentlich ziemlich zerknautscht und macht einen kränklichen Eindruck, aber aus der Entfernung wirkt sie tatsächlich irgendwie niedlich, fast schon künstlich, wie sie da oben auf der matschigen Zuckercreme thront. Wegen diesem kitschigen kleinen Detail hat sie diesen Muffin überhaupt erst gekauft. Sorgsam kauend hebt sie die linke Hand, die in einem Handschuh aus schwarzem Samt steckt, und legt eine dunkle Haarsträhne zurecht. Den rechten Handschuh hat sie ausgezogen, um ihn nicht mit der weißen Mousse des Muffins zu bekleckern.
Ihre schlanken Finger, durch den festen Stoff taub, betasten ihren Kopf auf der Suche nach weiteren losen Haarsträhnen. Währenddessen lässt sie erneut ihren Blick wandern. Ihr Körper zeichnet undeutlich einen schwarzen Umriss an die gegenüberliegende Mauer. Die Silhouette an der Wand ist schmal, leicht gebogen wie eine Mondsichel und doch irgendwie aufrecht und stolz. Auf ihrem Kopf thront kronenartig eine große Stoffblume, die ihre hochgesteckte Frisur befestigt. Nachdenklich betrachtet sie den Schatten, der sich deutlich gegen die fast weiße Wand abhebt. Die Straßenlaternen in ihrem Rücken lassen die Konturen noch schärfer hervortreten und erinnern sie fast ein wenig an Bühnenbeleuchtung.
Sie hat mit dem Theater angefangen, als sie zwölf war. Schon ihre Mutter ist begeisterte Schauspielerin gewesen und hat sie oft zu ihrer Arbeit mitgenommen, wo sie dann im Probenraum in einer Ecke gesessen und den großen Leuten beim Vorspielen zugesehen hat. Fasziniert hat sie das Schauspiel schon immer, aber schon vor Langem hat sie begonnen, auch die Schattenseiten zu bemerken. Es ist wie auf der Bühne, wo Licht und Dunkelheit miteinander spielen, sich gegenseitig für eine gewisse Zeit verdrängen und dann von Neuem ihren harmonischen Tanz miteinander beginnen.
Sie hat diesen Wechsel von Licht und Schatten als ihr Lebensmotto übernommen. In ihren unterschiedlichen Rollen ist es stets dieser Gegensatz, der sich in ihrer Erscheinung bemerkbar macht. Ihre Haut ist bleich durch die endlosen Stunden in weitläufigen Räumen, die sich vor der Außenwelt verbergen, und durch die Theaterschminke, die ihr die für alle ihre Rollen so typische Eleganz und Anmut verleiht. Sie ist eine Lady, gekleidet in Schwarz und gepudert in Weiß.
Keineswegs bedeutet dies, dass ihre Rollen einander zwingend ähneln – Wandelbarkeit ist eine ihrer Stärken. Aber alle Personen, die sie je gespielt hat, alle Charaktere – sie alle haben eines gemeinsam: den Kontrast zwischen Hell und Dunkel, zwischen Schwarz und Weiß, aus dem sie alle ihren Stolz und ihre Eleganz beziehen.
Der Schatten an der Mauer gegenüber trägt Puffärmel an den eleganten Armen, sie wirken fast ein wenig wie kleine Flügelchen. Die Ärmel gehören zu ihrem Kostüm, zu ihrer Rolle. Ihr Blick wandert an den Konturen des Kleides entlang, das in sanften Falten um ihre Taille fällt. Sie verliert sich für einen Moment in dem Anblick. Sie trägt das Kleid immer nur in den Theaterräumen und dem kleinen Vorplatz, auf dem sie sich in den Pausen ein Gebäckstück oder eine Zigarette genehmigt. Auf dem Weg zum Theater trägt sie meist schlichte Hemden oder, wenn sie Lust auf ein etwas schickeres Outfit bekommt, Kleider, bei deren Auswahl sie sich stets der Inspiration durch ihre gespielten Rollen bedient.
Vielleicht bin ich in mir drin irgendwie verkümmert, denkt sie. In mir drin ist so viel, da ist so viel Platz für diese ganzen Charaktere und deren Interessen und Ansichten und
Präferenzen. Aber vielleicht haben diese ganzen Personen in mir drin am Ende mein Ich erdrückt.
Sie verzieht die Augenbrauen in einer Geste, die wirkt, als würde sie dem eben Gedachten im darauffolgenden Augenblick schon nicht mehr zustimmen und es nun lediglich mit einer leichten Überheblichkeit hinnehmen.
Das Muffinförmchen in ihrer Hand wispert leise, als sie den letzten Bissen des Gebäckstückes in den Mund nimmt. Sie knüllt das Papier zusammen und wirft es ohne weitere Beachtung in den Mülleimer neben sich. Dann öffnet sie die Theatertür und verschwindet im Inneren des Gebäudes.