Selina Wagner: „Lärm. Stille. Lied“
Ein Auto fährt vorbei. Noch eins. Noch eins. Noch eins.
Motoren dröhnen. Motoren brummen. Manchmal ein Elektrofahrzeug.
Er steht an der Straße.
Ein Auto fährt vorbei. Ein schwarzes. Ein graues. Ein schwarzes.
Er hat die Hände in den Taschen. Es ist kalt. Es schneit.
Ein Auto fährt vorbei.
Sonst schneit es nie.
Er schaut auf. Der Himmel ist trüb. Eine Schneeflocke landet in seinem rechten Auge. Er blinzelt. Sein Atem ist weiß vor seinem Gesicht. Er denkt an seine letzte Zigarette.
Ein Auto fährt vorbei. Ein Auto bremst.
Die Ampel ist grün. Menschen gehen über die Straße. Menschen rennen über die Straße. Menschen drängen an ihm vorbei.
Er steht an der Straße. Er steht im Weg. Er ist im Weg.
Kein Auto fährt vorbei.
Seine Haare sind nass. Seine Füße auch. Ihm ist heiß.
Er atmet ein.
Die Ampel ist rot. Finger tippen auf Lenkräder, Füße zucken an Pedalen, Motoren knurren.
Ein Auto fährt vorbei. Ein Mercedes. Ein Opel. Eine Marke, die er nicht kennt.
Er atmet aus. Atem weiß. Vor seinem Gesicht. Atmet seine Gedanken aus. Himmel hat die gleiche Farbe. Keine.
Auto fährt vorbei. noch. eins. noch. eins. noch.
Motoren, nah, näher, Metall, Fleisch, Menschen, kreischen Menschenkreischen. laut.
Er hat den Schritt nicht einmal bemerkt, seinen Schritt. Aufprall.
Es ist still in seinem Kopf. Er denkt nichts und es fühlt sich gut an.
Ein weißer Raum ohne Wände. Musik. Er schmeckt die Noten auf der Zunge, riecht sie, sieht sie. Alles ist falsch und richtig.
Er streckt die Arme auf, will das Lied greifen, sich einfügen. Eine weitere Note in der Hymne des Lebewohls.
Aber er kann nicht. Den Mund voll Metall. Es tut weh. Es sollte nicht wehtun, nicht mehr.
Ein Junge liegt auf der Straße.
Ein Auto fährt vorbei.