„Komm heim“, sagt meine Freund am Telefon.
„Gela, du musst dir das wirklich nicht mehr antun“, sagt Astrid während ihrer täglichen Kontrollanrufe aus dem Homeoffice, bei denen sie dezent meinen geistigen Gesundheitszustand abfragt, um sicherzustellen, dass ich noch nicht plane, in der Unterhose aus dem Fenster zu springen.
„Solange ich noch arbeite, bleibe ich“, sage ich ihr, sage ich all jenen, die die Hartnäckigkeit nicht verstehen, mit der ich mich noch an den Aufenthalt in Stuttgart klammere.
„Ich habe mir das verdient“, sage ich ihnen und vor allem mir selbst trotzig. Denn wie Trotz erscheint er mir mittlerweile, der unbedingte Wille an einem Plan festzuhalten, dessen Basis andere Umstände waren. Andere Lebensumstände, die ich vor drei Monaten noch Normalität genannt hätte und von denen ich mir heute nicht sicher bin, ob ich sie Vergangenheit nennen soll.
Die Vision war: In Stuttgart mein Buch schreiben. Mich in Stuttgart endlich auf die Geschichte konzentrieren, die seit Jahren in mir brodelt und die ich nie schreibe, weil ich reise, oder Lesungen gebe oder private Krisen bewältige. Und tatsächlich habe ich geschrieben, aber nicht genug, sage ich mir, und weiß nicht, ob das stimmt. Seit Tagen liegt der Text unberührt und ich bemitleide mich alleine in der Wohnung, alleine in der Stadt, alleine beim Einkaufengehen und verwickle die armen Kassiererinnen hinter den Plexiglasscheiben im Supermarkt in belanglosen Smalltalk.
Am Anfang half noch das Kaufen. Eine Packung Berglinsen gegen die Einsamkeit und dann wieder Schreiben, eine Kinder-Tomatensuppe mit Nudeln in Gespensterform, um die Selbstliebe zu unterstreichen. Aber mittlerweile sind es täglich eine Päckchensuppe und eine Joggingrunde im Park. Mein Vitamin D-Haushalt stimmt. Eine ganze Schublade voller Päckchensuppen: Tomatensuppe, Champignoncremesuppe, Hochzeitssuppe mit Klößchen und Grießnockerlsuppe, aber die Grenzen zu Österreich sind noch immer dicht und meine Romanfiguren sitzen seit Wochen in mir fest.
Ich laufe im Park, ein Mann steht auf einer leeren Wiese und singt den „Recovery“-Song von James Arthur, der mich an meine Studienzeit in Irland erinnert. Der Mann kann überhaupt nicht singen. „My Recovery“, brüllt er und filmt sich mit seinem Handy. Er brüllt mit Inbrunst und das ist mir sympathisch.
Ich schlängle mich an der „Stuttgart 21“-Baustelle vorbei, vor mir zwei Polizistinnen auf ihren Pferden. Ein Pferd öffnet sein Arschloch und lässt gemächlich die Äpfel auf den Gehweg plumpsen, auch das ist mir sympathisch. Seit Tagen muss ich mein inneres Petz-Kind unterdrücken, das zu den berittenen Polizistinnen rennen und sagen will:
„Da hinten sind vier Männer, sie sind laut und keine Familie, verhaften Sie sie, ich bin eine brave Bürgerin.“
Ich laufe und bewundere wieder einmal meine hartnäckige Unsportlichkeit, bewundere mich selbst dafür, dass ich nach Wochen des Trainings keine zwei Minuten am Stück laufen kann. Das können nicht viele von sich behaupten, dass ihr Körper dermaßen gegen sie ist, Fructoseintoleranz habe ich auch, und eine Autoimmunerkrankung: Es ist ein Beweis nach dem anderen.
Ich erreiche die Anhöhe mit dem fancy Gebäude, von dem ich immer noch nicht weiß, was es ist, die Anhöhe, auf der ich mit meiner Freundin Mia am Telefon diskutiert habe, was eigentlich horten ist und dass ich mir eine Richtlinie wünsche, die mir sagt, wieviele Päckchensuppen genau in einer Küchenschublade liegen müssen, um sich mit dem Leben wieder sicher zu werden.
Ich laufe weiter und knicke um. Bei jedem zweiten Schritt tut mir der Knöchel weh. Schlimm ist das nicht, nichts was behandelt werden muss, aber laufen geht auch nicht mehr. Ich denke an den „Recovery“-Sänger von Vorhin und finde ihn auf einmal überhaupt nicht mehr nett.
Es ist schon dunkel und nicht einmal das zahnmedizinische Folterzentrum ist abends jetzt noch hell erleuchtet. Wozu, wenn niemand die Schaufenster sieht? Ich lege testweise eines meiner Recherche-Bücher in den Koffer, überlege, ob ich ein Paket mit Fertigsuppen vorausschicken müsste. Ich putze mir die Zähne und gehe um Mitternacht ins Bett. Die Lichter in der Bäckerei sind noch aus. Normalerweise startet das Geschrei spätestens um Dreiviertel Zwölf. Ich denke an den Supermarkt, der jede Woche anders ist. Jede Woche eine neuer Streifen auf dem Boden oder eine Plexiglasscheibe zwischen mir und einem anderen Menschen. Ich denke and die kleinen Geschäfte, die am Anfang noch handgeschriebene „Wir haben OFFEN!“-Zettel im Fenster hängen hatten und dann nicht mehr.
Ich lösche das Licht. Nach fünf Minuten gehe ich noch einmal aufs Klo und schiebe den Vorhang zur Seite. Die Bäckerei ist noch immer dunkel. Ich lege mich hin, versuche zu schlafen, etwas in mir spannt sich an, ich stehe wieder auf. Noch einmal stelle ich mich zum Fenster. Jetzt sind die Lichter an. Ich atme aus und sage:
„Danke.“
Ich schiebe den Vorhang zurück und gehe schlafen.