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The Arrival #4

Als ich einschlafe, habe ich sofort eine Albtraum-Halluzination. Ich sehe einen vermummten Mann im grünen Rock neben meinem Bett stehen. Schreiend schrecke ich aus dem Schlaf und laufe aus dem Zimmer. In Unterhose renne ich durch die Wohnung, schreie nach Hilfe und schalte überall das Licht an. Ich brauche eine Minute, bis ich verstehe, dass ich geträumt habe. Mit Herzrasen kehre ich ins Schlafzimmer zurück. Mir ist schlecht, ich fürchte mich vorm Einschlafen. Bis vier Uhr morgens schaue ich eine Fitness-Doku auf Netflix an. Ich denke darüber nach, ob mich wohl jemand gesehen hat durch die Fenster; ob am Schriftstellerhaus, sollte ich jemals richtig berühmt werden, eines Tages eine Plakette angebracht werden wird:

Hier rannte Angela Lehner in Unterhosen.

Oder schlimmer: Ich werde nach meinem Tod selbst zum Poltergeist und zukünftige Schriftstellergenerationen erzählen einander unter Schaudern, dass man in stillen Nächten den Geist einer jungen Schriftstellerin in Unterhosen durchs Haus streifen sähe. Er habe Augenringe, wird man sich über diesen Geist erzählen, und manchmal wolle er einem vorgaukeln, er arbeite an seinem zweiten Roman.

Schon auf dem Weg nach Berlin beginnt meine Schlaflosigkeit anzuheilen. Mein Buch fällt wiederholt auf den Zugboden, ich stelle mir einen Wecker für den Umstieg in Nürnberg. Ich verbringe die gesamte Anfahrt in einer Art Dämmerschlaf, wache nur auf, wenn jemand auf dem Sabber der mir aus dem Mundwinkel fließt, am Gang ausrutscht und sich einen Arm oder ein Bein bricht.

In der ersten Nacht besuche ich meinen Freund und ziehe meine Mikrowellen-Wärmeschuhe an. Ich schlafe fünf Stunden durch, am Morgen bin ich euphorisch. Schnell wird mir klar, dass der Wunsch, den Schädel gegen die Wand schlagen zu wollen, doch kein menschliches Grundbedürfnis sein kann. Gestärkt vor lauter Schlaf gehe ich zum ersten Meeting in der Agentur. Wir essen mediterrane Mini-Quiches. Auch in Berlin ist den Menschen die höllische Stuttgarter Bäckerei bereits ein Begriff. Legendär der Lärm, den die die ganze Nacht herumgeworfenen Backbleche verursachen. Legendär auch die unfassbar unfreundlichen Verkäuferinnen, die einem das morgendliche Pfefferle mit einem Gesichtsausdruck reichen, als hätte man ihnen höchstpersönlich die Unschuld geraubt.

„Aber der Kuchen ist gut“, sag ich zu meiner Berliner Agentin und beiße in eine Mini-Quiche.

Am Abend treffe ich Alle in der Markthalle 9. Ich esse Pulled Pork-Sandwiches aus Schwäbisch Hall und versuche dem Verkäufer mitzuteilen, dass auch ich jetzt Schwäbin bin. Der Verkäufer sagt, dass er selbst noch nie in Schwäbisch Hall gewesen sei.

„Das ist enttäuschend“, sag ich ihm, und dass das auch ein sinnloses Gespräch sei.

Auf dem Agenturfest rümpft jeder, dem ich von meinem aktuellen Zuhause in Stuttgart erzähle, die Nase. Die Berliner mögen die Stuttgarter nicht und gehen automatisch davon aus, dass auch ich der Stadt nicht zugetan wäre. Dabei brennt mein Herz für Stuttgart um ein Vielfaches mehr als für Berlin, mein Hass steigert sich mit jedem abschätzigen Kommentar. Ich beginne Zyankali in die Sektgläser der betreffenden Personen zu mischen. Es kommt zu einem Aufruhr und nach dem fünften Auftritt des Krankenwagens nimmt die Agenturchefin mich peinlich berührt zur Seite und erklärt mir, dass es sich im Literaturbetrieb nun wirklich nicht schicke, die eigenen Kolleginnen und Kollegen zu morden.

Mein Freund und ich essen drei Tage lang Süßigkeiten und schlafen jede Nacht zehn Stunden. Seine 17jährige Cousine kommt wegen eines K-Pop-Konzerts mit ihrer Mutter zu Besuch. Während die Cousine in bonbonfarbenen Strumpfhosen vor der Konzerthalle campt, gehen wir mit der Tante Honigkuchen essen und werden in die Verhältnismäßigkeiten und Regeln der K-Pop-Fan-Szene eingeweiht. Wer sich durch das Campen eine VIP-Karte ergattert, darf sich in eine Reihe mit 900 andere Fans stellen. Vor die Fans stellen sich dann die Bandmitglieder, schütteln jedem einzelnen, die Hand und sagen auf Koreanisch: Danke. Danke, Danke Danke.

„900 Mal Danke, das muss man sich einmal vorstellen“, sag ich Honigkuchenkauend, „bei mir ist die Aufmerksamkeitsspanne ja schon vorbei, wenn ich dreißig Leuten ein Autogramm gebe.“

„Ja“, sagt die Tante und wir nicken, obwohl es natürlich eine Lüge ist, dass dreißig Leute auf einmal sich jemals ein Buch von mir signieren lassen hätten.

Auf der Rückfahrt nach Stuttgart bin ich durch all den reichhaltigen Schlaf bereits so gestärkt, dass ich mich ausschließlich auf Plätze gegen die Fahrtrichtung setze. Ich esse die ganze Fahrt über ausschließlich Brezen: eine überdimensionale Kürbiskernbrezel hole ich in Berlin, eine Pfeffer-Brezel in Nürnberg bei Brezen Kolb. Dass ich 24 Stunden lang nur Brezen gegessen habe, kann mir in Stuttgart keiner ansehen, das verschafft mir einen Vorteil. Einen Vorteil wofür, weiß ich zwar noch nicht, aber schaden kann es auch nicht.

Ausgeschlafen, in mir ruhend wie ein ganzes Yoga Studio, durchschreite ich milde lächelnd die Stuttgarter Innenstadt. Auf der Königstraße streife ich mir schon die Sandalen ab, der Boden kann meinen Fußsohlen nichts mehr anhaben.

Aus dem Herzen herausstrahlend wandle ich auf die Kanalstraße zu. In der Spiegelung der Fensterscheiben erkenne ich meine gesunden roten Bäckchen. Ich lächle, ziehe ein selbstgeflochtenes Weidenkörbchen aus dem Rucksack und stelle es vor die Tür des Schriftstellerhauses. Ich ziehe all meine Kleidung aus und lege sie auf dem Gehweg ab. Nackt stelle ich mich in das Körbchen und drücke die Klingel an der Gegensprechanlage, dann schrumpfe ich auch schon zusammen. Schrumpfe und schrumpfe, bis ich mich bequem auf den Rücken ins Weidenkörbchen legen kann. Ich strecke meine kleinen Händchen von mir, sehe die makellose milchfarbene Haut auf den Michelin-Ärmchen; nicht einmal meine alten Narben habe ich mehr. Drinnen höre ich Astrids Schritte auf den Treppen. Gleich wird sie die Tür öffnen, das unschuldige Bündel, zu dem ich geworden bin, in die Arme schließen und in die Stipendiatenwohnung hochtragen.

„Ich bin bereit“, werde ich mit einer glockenhellen Kinderstimme sagen, leise nur, weil meine Stimmbänder eigentlich noch zu zart zum Sprechen sind.

„Ich bin bereit“, werde ich sagen, „jetzt schreibe ich meinen zweiten Roman.“

Angela_Lehner
Angela_Lehner
Angela Lehner wurde 1987 in Klagenfurt geboren und hat nach dem Abitur vergleichende Literaturwissenschafte in Wien und Maynooth (Irland) studiert, mit Bacholor abgeschlossen, dann den Master erworben. Im Frühjahr 2019 hat Lehner den Roman “Vater unser” im Hanser Verlag Berlin veröffentlicht und dafür bislang zahlreiche Preise erhalten, u.a. war sie auf der Longlist des deutschen Buchpreises vertreten und wurde mit dem Debütpreis des österreichischen Buchpreis 2019 ausgezeichnet.