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Buchtipp von Susanne Martin: „Apeirogon“ von Colum McCann

Rami und Bassam leben beide in Israel, beide haben ihre Töchter durch Gewalt verloren und sie sind Freunde. Letzteres ist ungewöhnlich, denn Bassam ist Palästinenser und Rami Israeli. Rami hat in 3 Kriegen mitgekämpft, Bassam saß 7 Jahre im Gefängnis, weil er als Jugendlicher eine Handgranate auf einen israelischen Jeep warf. Die beiden Männer verbindet nicht nur die Trauer um ihre Töchter, sondern auch das Ziel, die Besatzung zu beenden. Deshalb sind sie Mitglieder der „Combatants for Peace“ und des „Parents Circle“. Und sie halten regelmäßig gemeinsam Vorträge, bei denen sie über den Verlust ihrer Töchter und das, was er mit ihnen gemacht hat, sprechen: Ramis Tochter Smadar wurde bei einem Selbstmordattentat getötet, Bassams Tochter Abir starb durch ein Gummigeschoss aus einem israelischen Gewehr.

In diesen Rahmen bettet Colum McCann zahlreiche Mosaiksteine ein, in denen er ein Bild der Geschichte Palästinas und seiner Menschen zeichnet: Ein Apeirogon ist eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten. Und einem Apeirogon gleich hat auch die Geschichte des Palästinakonflikts und das Leben der Menschen in diesem Landstrich eine scheinbar unendliche Vielzahl von Perspektiven.

Der Roman ist eingeteilt in 1001 Kapitel, von denen manche nur einen Satz lang sind. Das Kapitel 500 gibt es zweimal, genau in der Mitte des Buches beginnt die Zählweise rückwärts, so daß der Roman mit Kapitel 1 beginnt und endet. 1001 – diese Zahl ist nicht zufällig gewählt, denn so wie Sheherazade gegen ihren Tod anerzählt, erzählen auch Bassam und Rami gegen ihn an, ebenso wie gegen die Gewalt auf beiden Seiten, die das Leben unzähliger Unschuldiger fordert und gegen die mit der Besatzung verbundenen Erniedrigungen. Die beiden 500. Kapitel bestehen jeweils aus der Erzählung der beiden Männer vom Schicksal ihrer Töchter.

Als Lesende streifen wir beispielsweise durch die Vogelwelt Israels, lernen, dass die zweitgrößte Flugroute der Zugvögel über das Land führt und israelische Kampfpiloten mit dem Zugverhalten der Vögel betraut gemacht werden, um nicht in Gefahr zu geraten Gleichzeitig lesen wir aber auch, wie auf Leitungen sitzende Vögel von Steinschleudern getötet werden, die schon im Altertum als Kriegswaffe dienten: Eins führt zum anderen, von der Natur zur Waffe, von der Beobachtung zur Überwachung, von der Gegenwart bis weit zurück in die wechselvolle Geschichte.

Wir lesen auch, wie der Alltag in dem in 3 Zonen eingeteilten Land sich für seine Bewohner völlig unterschiedlich gestaltet. Die Farbe des Nummernschilds (Ramis ist gelb, Bassams grün) kann beispielsweise über die Länge einer Fahrt von einem Ort zum anderen entscheiden. Fahrten von Fahrzeugen mit grünen Nummernschildern werde stets länger dauern, weil die Insassen mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem der zahlreichen Checkpoints aufgehalten werden. Und wir erleben in vielen kleinen Begebenheiten die Arroganz der Besatzer und die wütende Hilflosigkeit der Palästinenser. Durch die kaleidoskopartig kunstvoll miteinander verwobenen Textstücke entsteht eine unglaubliche Intensität und Spannung, die mich nicht mehr losgelassen hat. Gleichzeitig wird der Roman mit seiner kunstvollen Struktur der ungeheuren Komplexität dieses unlösbaren Konflikts gerecht.

Ein großartiger Roman, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche!

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Auf Perlentaucher sind die wichtigsten Rezensionen zusammengestellt

In diesem Video (4:43 Min.) können Sie Rami und Bassam kennenlernen

Wenn Sie das Buch selbst lesen möchten, finden Sie die bibliographischen Angaben für eine Bestellung im unabhängigen Buchhandel hier.

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