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Buchtipp von Susanne Martin: „Die Sommer“ von Ronya Othmann

 

2019 las die 1993 in Leipzig geborene Ronya Othmann bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt den Text „Vierundsiebzig“, in dem sie sich mit dem Völkermord an den Jesiden 2014 auseinandersetzt. Die Jury setzte sich in ihrer Diskussion weniger mit der literarischen Qualität dieses Textes auseinander, sondern diskutierte vor allem darüber, wie man über Schreckliches schreiben könne und ob es sich bei „Vierundsiebzig“ überhaupt um einen literarischen Text handele. Das Publikum jedoch war vor allem vom Thema beeindruckt und stimmte im Online-Voting für die Verleihung des Publikumspreises.

Nun hat Ronya Othmann ihren ersten Roman vorgelegt, der sich ebenfalls mit dem Thema des Genozids der Jesiden auseinandersetzt, dieses Mal handelt es sich um einen literarischen Text, der jedoch ganz sicher starke autobiographische Züge trägt.

Im Mittelpunkt steht Leyla, die jeden Sommer mit ihren Eltern, einem jesidischen Kurden und einer Schwarzwälderin, in das Heimatdorf des Vaters reist. Zu Beginn lesen wir das aus der Perspektive des Mädchens, das noch ganz Kind ist und sich auf die Besuche bei den Großeltern und den Cousinen und Cousins freut. Schon Wochen vorher beginnen die Vorbereitungen, werden die Dinge, die die Verwandten brauchen, eingekauft. Leyla darf jedoch nie sagen, daß sie nach Kurdistan reist, denn das gibt es offiziell nicht – die Familie reist nach Syrien. Das Leben in der Großfamilie ist ganz anders als das Leben in Deutschland, nie ist man allein, was Leyla zu Beginn genießt, was sie irgendwann aber auch nervt. Dennoch ist sie stets zutiefst traurig, wenn sie wieder zurück nach Deutschland muss. Besonders innig ist das Verhältnis zu ihrer Großmutter, einer tief gläubigen Frau, die ihre religiösen Vorstellungen an die Enkelin weitergeben will. Die Cousinen und Cousins jedoch finden Leyla oft hochnäsig und hänseln sie. Auch ihre Mutter wird nur teilweise respektiert – viele aus der Familie halten sie für eine Spionin, schätzen aber andererseits auch ihre medizinischen Fähigkeiten als Krankenschwester.

Ronya Othmann beschreibt diese Besuche atmosphärisch dicht und in einer zwar schlichten, aber schönen Sprache, die alles sehr vorstellbar macht. Zu Beginn ist der Horizont auf das kindliche Erleben konzentriert, aber je älter Leyla wird, desto mehr erweitert sich ihre Perspektive und damit auch unsere. Wir erfahren mehr und mehr von den politischen Verwerfungen und dem immer weiter voranschreitenden Verlust der Lebenswelt von Leylas Familie. Das wirkt sich auch auf ihr Leben in Deutschland aus, dort trägt der der Fernseher die Geschehnisse in das Wohnzimmer der Familie. Den Passagen von Leylas Erleben stellt die Autorin die Geschichten des Vaters gegenüber, der ihr aus seiner Jugend erzählt. Diese Passagen kontrastieren besonders im ersten Teil reizvoll mit den Schilderungen aus der kindlichen Perspektive von Leyla.

Ein wirklich anrührendes Buch, das nicht nur vom Schicksal der Jesiden erzählt, sondern auch von der Zerrissenheit einer jungen Frau, die zwischen zwei Kulturen steht.

Wenn Sie das Buch selbst lesen möchten, finden Sie die biliographischen Angaben für eine Bestellung im unabhängigen Buchhandel hier

 

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