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Februar 2025

Schriftstellerhaus, Foto: Verena Boos
Schriftstellerhaus, Foto: Verena Boos

FREMDENZIMMER

“Fremdenzimmer” ist das Stichwort, das mir Rainer Koch für meine Vorstellung auf der Website des Schriftstellerhauses zur freundlichen Bearbeitung hingeworfen hatte.

Meine ersten Assoziationen waren eher nostalgischer Art. Der Begriff weckt Erinnerungen an meine dörfliche Kindheit. In den Achtzigern boten Privatleute Fremdenzimmer, die von jährlich wiederkehrenden Gästen aus dem Pott gemietet wurden. Der Fremdenverkehrsverein im Luftkurort hatte im Häuschen an der Bushaltestelle (wo fast niemals ein Bus hielt) eine Tafel installiert, auf der ich als Kind die Lämpchen für die verschiedenen Fremdenzimmer im Dorf aufleuchten lassen konnte.

Das Wort weckt weiter Erinnerungen ans Unterwegssein in ähnlich entlegenen Regionen, die noch lange nicht von Hostels oder AirBnB erfasst waren. Manchmal nannten sie sich Fremdenzimmer, manchmal Gast- oder Pensionszimmer. Dem Begriff haftet die Aura der Einfachheit an, des Lebens aus dem Rucksack oder der Satteltasche.

Ein Fremdenzimmer ist natürlich ebenfalls die Stipendiatenwohnung im Schriftstellerhaus: eine Unterkunft auf Zeit für eine, die fremd in dieser Stadt ist, im etymologischen Sinn des Wortes: eine von auswärts, nicht heimisch, unbekannt.

Auch diese Bleibe besticht durch eine behagliche Einfachheit: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. So ungefähr. Ich fühle mich wohl unterm Dach des Schriftstellerhauses und erlebe es als einen Rückzugsort, eine Oase der Ruhe, obwohl (oder gerade weil) das Gluckern der Heizkörper und das Verkehrsrauschen am Charlottenplatz eine stete Klangkulisse bilden.

In gewisser Weise ist auch dies hier ein Leben aus der Satteltasche. Es ist einfach und im besten Wortsinne reduziert. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Stipendiatin zu sein entlastet mich von Verantwortlichkeiten des Alltags und von Kellern, die man mal aufräumen könnte. Ich komme mit wenig Geschirr aus und mit wenig Klamotten. Ich kaufe nur ein, was ich innerhalb von ein paar Tagen verzehre. Was ich hier wirklich brauche, passt in einen Rucksack. Ein Laptop, ein Buch, ein Romanprojekt. Jedes Aufenthaltsstipendium hat etwas von Pilgerschaft: die Reduktion auf das Wesentliche. Schreiben.

FREMDSEIN

Ich richte mich also ein in Räumlichkeiten, die nichts mit mir zu tun haben und in denen die Gedanken demnach andere als die üblichen Wege gehen und wachsen können. Fremd irgendwo zu sein heißt für mich immer auch, in eine Offenheit zu kommen und kreativ(er) zu sein.

Ich bin schon an vielen Orten eine Fremde gewesen. Ich bin in Rottweil geboren und aufgewachsen, es waren die Achtziger- und Neunzigerjahre, eine Jugend in der beschaulichen süddeutschen Provinz, die durch mehr oder weniger ferne Kriege aufgerüttelt wurde und durch schwere Krankheit, aber kaum durch Fremdheitserfahrungen. Nach dem Abitur ging ich für ein paar Monate nach Paris und machte meine ersten Schritte als Anfängerin im Fremdsein. Später Bologna und Florenz, Glasgow und London, Barcelona und Madrid und Valencia. Aus der europäischen Studierenden- und Arbeitnehmerfreizügigkeit habe ich so ziemlich alles rausgeholt, was ging. (Fußnote: Es ist bitter zu beobachten, wie dieses offene Europa der Neunziger- und Zweitausenderjahre in nostalgische Fernen entrückt.)

Ich hab mal durchgezählt: An über zwanzig Orten habe ich drei Monate gelebt oder länger. Es sind fast zehn Jahre, die ich quasi aus dem Koffer oder maximal dem Kofferraum gelebt habe. Ich habe mich heimisch gemacht an diesen unterschiedlichen Orten, an manchen mehr, an anderen weniger. Ich habe Sprachen gelernt und Kulturen, mir Gepflogenheiten vertraut gemacht und Freundschaften geschlossen, die inzwischen zwanzig Jahre Bestand haben. Am heimischsten geworden bin ich in Spanien.

Sprachen machen etwas mit einem. Im Spanischen geht meine Stimme nach unten, im Englischen geht sie hoch. Die Hauptfigur Amalia in meinem Roman DIE TAUCHERIN erlebt, wenn sie nach Spanien kommt, „keine komplette Verwandlung, eher eine Verschiebung“, weil sie mehr lacht, lauter spricht, geselliger ist: “Sie wandelte sich, wenn sie dort war, manchmal dachte sie: eine Version näher an sich selbst.” Was ich an dieser Stelle im Roman Amalia denken lasse, trifft auf mich selbst genauso zu. Es ist die Sprache, aber nicht nur. Es ist die Interaktion mit den Menschen. Es sind Räume – im weitesten Sinne – und wie sie betreten und bespielt werden. Andere Regeln des sozialen Zusammenseins. Leben und leben lassen, was von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausfällt. Da ist viel Dynamik drin, die mit der eigenen Lebenssituation und dem Leben, aus dem man kommt, zu tun hat. Welche Möglichkeiten einem die andere Kultur bietet, definiert sich immer aus der eigenen Ausgangssituation heraus. Jedes Land hat seine Zwänge und ungeschriebenen Gesetze, ein stark katholisch geprägtes umso mehr – die aber für mich damals nicht galten, mich nicht einengten, die ich aber über das Leben meiner Freund*innen sehr wohl mitbekam.

Meine Fremdheitserfahrung war immer getrieben von Neugierde, Bildungshunger und Freiwilligkeit. Sie spielte sich in sehr bescheidenen, aber grundsätzlich abgesicherten Verhältnissen ab. Aus dieser vorteilhaften Position heraus konnte ich das Leben in und mit verschiedenen Kulturen, das Fremdsein und Heimischwerden als große Bereicherung erleben. Als Weltgewandtheit. Als ein Privileg. Es sind zusätzliche Horizonte, Facetten, Vielschichtigkeiten. Zwei Romane sind daraus hervorgegangen, BLUTORANGEN und DIE TAUCHERIN. Sie wären ohne diese Kenntnisse und Zugewinne nicht denkbar.

Destruktiv wird das, was ich als Reichtum erlebe, lese und beschreibe, in aller Regel erst durch Andere: durch repressive Mentalitäten, Bräuche und Traditionen im Innern einer Kultur und durch Menschen, die andere Menschen auf der Basis von Kultur und Herkunft stigmatisieren oder diskriminieren. L’enfer, c’est les autres.

FREMD IST ELEND

“Fremd ist Elend” war ein Satz meiner Oma. Vielmehr ein Seufzer. Für sie war das ein Argument fürs Daheimbleiben, in sicheren Gefilden. Mich nannte sie den Zugvogel.

In seiner heutigen Bedeutung steht Elend für Not, Bedrängnis, Armut. Allerdings entlehnt sich das Wort dem mittelhochdeutschen “Ellende”, was so viel heißt wie “anderes Land” oder Verbannung, Ausgestoßensein und damit Vereinsamung. Fremd ist ein anderes Land, ganz banal. Fremd ist, wer ausgestoßen und einsam ist, zum Fremden gemacht wird.

Gibt man das Wort “fremd” im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache ein, wird die Verlaufskurve im DWDS-Zeitungskorpus aufgezeigt. Demnach hatte der Begriff fremd seinen Höhepunkt in den späten Vierzigerjahren und ist seither stetig aus der Mode gekommen. Zuwanderung und Einwanderung haben immer wieder mal Konjunktur gehabt seit den Neunzigern. Flüchtling hatte einen Peak 2015/2016, während 2022 überwiegend über Geflüchtete geschrieben wurde. Steil nach oben geschossen in den letzten zwei Jahren ist der Gebrauch der Wörter Migration und Kriminelle: beide befinden sich aktuell auf dem höchsten Stand überhaupt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Es ist erwiesen, dass es KEINEN statistischen Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität gibt, was speziell auch für Schutzsuchende gilt. Diese Erkenntnisse des ifo-Forschungsinstituts decken sich mit Befunden der internationalen Forschung. (Quelle: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2025-digital-03-adema-alipour-migration-kriminalitaet.pdf)

“Fremd ist der Fremde nur in der Fremde”, sagte Karl Valentin. Fremdenzimmer ist kein harmloser Begriff. Er zieht eine Grenze zwischen einem Wir und einem Anderen, etwas, das draußen ist und draußen bleibt – und womöglich draußen und fremd bleiben soll. In diesem Sinne hat sein Gebrauch Ähnlichkeiten zum Gastarbeiter. Gästezimmer wäre zugleich viel einladender, aber das bleibt ja meistens der Verwandtschaft vorbehalten. Und insofern denke ich ebenso daran, wie skandalös Begrifflichkeiten und Konzepte des Fremdseins missbraucht und instrumentalisiert werden und wie fremd und immer fremder ich mich in dieser Mehrheitsgesellschaft fühle, nicht zuletzt seitdem ich als “Spinner” beleidigt und ausdrücklich von der Politik des künftigen #nichtmeinkanzler ausgeschlossen worden bin. Fremd ist, was nicht zueinander passt.

FREMDELN

Der ersten Wochen dieses Stipendiums waren eine unruhige Zeit, fordernd äußerlich, fordernd innerlich. Abgrenzung unmöglich. Echte Einkehr sähe anders aus. Und so war das Fremdenzimmer in der Kanalstraße nicht nur eine Oase der Ruhe, weil sich ins beruhigende Gluckern und Verkehrsrauschen andere Dauergeräusche mischten und eine verstörende Klangkulisse bildeten, der Fremdenhass und die hinausgeschrieenen Lügen, die Demagogie in jenen unklar geschiedenen Lagern, zu denen sich nunmehr die Hälfte der Menschen in Deutschland bekennt. Ich befremde mich an vertrauten Personen, die offenbar über elastischere Moralsysteme verfügen als ich und deren christliches Selbstbild unantastbarer ist als die Würde des Menschen. Ich war oft the odd one out, doch zum ersten Mal erlebe ich Zukunftsangst und überkommt mich (ja: als nicht existenziell gefährdete weiße cis Westfrau) das Gefühl, als müsste selbst ich in dieser deutschen Gesellschaft bald ein Fremdenzimmer beziehen.

Brené Brown definiert Hoffnung mehr als Gedanken denn als Gefühl. Hoffnung ist die Verbindung von realistischen Zielen, den Mitteln zu ihrer Verwirklichung und dem Eindruck der Handlungsfähigkeit.

So verordne ich mir selbst den Gedanken der Hoffnung gegen die Gefühle von Ohnmacht, Fassungslosigkeit und Wut. In all dieser Fremdheit bleibt die Macht der kleinen Schritte und des praktischen Tuns. Während ich entgeistert das globale Geschehen verfolge (oder bewusst ausblenden muss) und Vielem immer fremder werde, bevölkert sich mein direktes Umfeld und mein Alltag, meine Zeit und mein Raum mit Menschen, die sich für eine ökologisch nachhaltige Zukunft, soziale Gerechtigkeit und solidarische Werte einsetzen.

EIN NEUES FREMDENZIMMER

Mein Schreiben war nie losgelöst von Geschichte, Gegenwart, Gesellschaft. Und so waren die ersten Wochen in Stuttgart eine Zeit der Unruhe und eine Zeit der Hoffnung. Geprägt gleichermaßen von Gefühlen der Entfremdung und des Zusammenwachsens, des zusammen Wachsens.

Am Ende meines ersten Monats im Schriftstellerhaus stehe ich mit 44.000 Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz, ich protestiere gegen Faschismus und gegen den SchMerz, es hat etwas Tröstliches und Verbindendes. Etwa zur Halbzeit meines Stipendiums im Schriftstellerhaus öffnen wir in Rottweil zum ersten Mal die Türen des Oberen Soolbads für die Öffentlichkeit. Im neu gegründeten Soolbad Club machen Menschen zusammen Kultur. Wir wollen Grenzen einreißen und Brücken bauen. Wir wollen der Vereinzelung Gemeinschaft entgegensetzen, die Verbindung von Elend und Fremde auflösen. Wir wollen offen sein für Andere(s). Hier, im Kleinen und Konkreten, steht die Trias von realistischen Zielen, den Mitteln zu ihrer Verwirklichung und einer sehr habhaften Handlungsfähigkeit. Also gibt es Hoffnung. Das Soolbad soll sich zu einem soziokulturellen Begegnungsort entwickeln, zu einem Raum, in dem Fremde sich begegnen und miteinander vertraut machen können. Ein Raum, in dem das Konzept Fremdenzimmer bestenfalls eine neue Bedeutungsschicht hinzugewinnt.

www.soolbad.de