Dass es aber sicher nur die Aufregung sei, dass ab morgen alles anders würde, sag ich, ab morgen schlafe ich wie ein Baby und dann schreibe ich meinen zweiten Roman.
Tatsächlich habe ich mir den zweiten Roman groß auf die Fahnen geschrieben, habe im Herbst mit der Faust auf den Elfenbein-Schreibtisch geschlagen und verkündet:
„Es reicht. Es reicht jetzt mit umziehen, mit Beziehungskatastrophen, mit Lesereisen, mit Finanzamtstreitereien, mit Wettlesen, mit Fahrgastrechte-Formularen. Ich bin krank, ich bin ausgebrannt, meinetwegen habe ich ein Burnout; wenn ich jetzt nicht wieder in einen Alltag komme, wenn ich jetzt nicht aus dem Betrieb steige wie aus einer Wanne mit zu heißem Wasser, wenn ich jetzt nicht „Adieu never-ending Lesetour“ sage, dann schreibe ich den zweiten Roman nie. Niemals werde ich ihn schreiben. Für immer werde ich durch die Gegend touren, als Angela Lehner, die einmal ein beachtetetes Debüt schrieb, seither aber kein Wort mehr tippte und irgendwann nur mehr in Literatur-Podcasts zu hören ist, in dem sie ihr Tour-Burnout breittritt und vom Vorhaben erzählt, eines Tages einen zweiten Roman zu schreiben.
Der zweite Roman, das sagen die Leute mit besonderer Betonung und schauen einen dabei an, als hätte man ihnen von einer ansteckenden Geschlechtskrankheit erzählt: Der zweite Roman ist der Schwierigste. Der ist schwierig, habe ich immer gesagt, aber Schuld, dass ich ihn nicht schreibe ist das Finanzamt, das Reisen und die Beziehungskatastrophen. Gäbe es all das nicht, hätte ich den Roman längst geschrieben, sage ich in jedem Interview, sage ich neuerdings auch dem Verlag und der Agentur, lasse es den schönsten Festivals und den glitzerndsten Veranstaltern ausrichten: Ich kann nicht kommen, ich schreibe einen Roman.
Nach und nach habe ich gegen Ende des letzten Jahres alle Verpflichtungen abgetragen, habe mich ganz frei gemacht von allem Weltlichen, um die idealen Bedingungen für einen Roman zu schaffen. Jetzt setze ich mich hin, setze mich gleich am ersten Morgen im Schriftstellerhaus hin und mache Recherche. Mache mit der immer wieder abgebrochenen Recherche weiter, die der Grundstock eines zweiten Romans werden soll. Ich koche mir einen Espresso, setze mich zu Astrid ins Büro.
„Ich bin schon voll drin“, sag ich: Wahnsinn, jetzt arbeite ich tatsächlich am Buchprojekt.
Ich schreibe Journalistinnen und Uni-Menschen an, werde müde und schlafe. Ich spaziere über die Königsstraße, widerstehe dem Drang, die Stadt weiter zu erkunden, widerstehe dem Drang, mich bei meinen Stuttgart-Bekanntschaften zu melden oder gar neue zu machen: Diesmal bleibe ich hart, diesmal bleibe ich dran, nichts und niemand wird mich von meinem Plan abbringen, jetzt meinen Roman zu schreiben.
Ich beschließe, Bodybuilderin zu werden. Nach zwei schlaflosen bäckereilärmdurchdrungenen Nächten denke ich, das geht nicht, ich brauche einen Ausgleich, brauche Bewegung, finde ein kleines Fitnessstudio in der Nähe und melde mich gleich an.
Ich will jetzt Freihanteltraining machen, verkünde ich dem Besitzer, nicht mehr Geräte wie in meinem alten Fitnessstudio, sondern was, das ich überall machen kann, meinen Trainingsplan beibehalten, so wie Raphaela Edelbauer in jedem Hotel-Fitnessstudio ihren Trainingsplan weiterverfolgt als sei sie daheim, als sei sie bei sich um die Ecke. Raphaela Edelbauer schreibt auch jeden Tag, fällt mir ein, was sie in einem gemeinsamen Interview gesagt hat. Ich flaniere durch das Schriftstellerhaus und hoffe, dass keiner dahinterkommt, dass ich eine Hochstaplerin bin, dass ich gar keine wirkliche Schriftstellerin bin, dass ich einmal durch Zufall ein Buch geschrieben habe und jetzt möchte ich nur noch Edel-Maronen aus dem HIT-Supermarkt essen. Stress dich nicht, sagt Astrid, du musst hier keinem was beweisen, hin und wieder einmal einen Blog-Beitrag, das wäre fein, mehr ist da nicht, mehr musst du nicht tun.
Am nächsten Morgen stehen vor dem Küchenfenster wieder die Foltermeister: Die Bäcker lungern auf einer schwarzen Gartenmöbelgarnitur und machen Pause. Sie rauchen und führen angeregt Konversation. Einer legt den Kopf beim Lachen in den Nacken, sodass seine spitzen Reißzähne in der Morgensonne glitzern. Vom Gürtel baumelt ihm eine meiner Brustwarzen, die er mir während einer der nächtlichen Folter-Sessions unbemerkt entfernt hat. Später erfahre ich, dass das vor dem Fenster in Wirklichkeit die Friseure sind, und nicht die Bäcker. Trotzdem beschließe ich, all meinen Hass auf sie zu konzentrieren. Man braucht ein Feindbild, das habe ich aus der Politik gelernt: Der Hass braucht eine Richtung und das Ziel ist nebensächlich.
Ich trinke Espresso und flaniere durch das Haus, gehe in den Keller, laufe die Treppen hoch zu den Gästezimmern, zur Stipendiatenwohnung. Wenigstens werde ich nach drei Monaten einen knackigen Arsch haben, denke ich, setze mich im Büro ans Fenster und schaue mir die armen Leute an: Gegenüber ist ein riesiges zahnmedizinisches Zentrum. Hinter Glasfassaden spielt sich jeden Tag der Horror ab. Vier nebeneinanderliegende hell erleuchtete Schaufenster, in denen desillusioniert dreinschauende Patienten auf Behandlungsstühlen liegen und auf ihre Zahnkorrekturen warten. Wenn die Ärztinnen und Helfer hereinkommen, reißen sie sich zusammen. Dann sind sie souverän, straffen die Schultern und grüßen freundlich. Aber vorher, starren sie durch die Fensterfronten mit glasigen Blicken und ausdruckslosen Gesichtern. Eine Frau liegt heute alleine im Raum auf dem Behandlungsstuhl und drückt sich mit einer Hand einen weißen Schal an die Brust.
Im Schriftstellerhaus lege ich die Füße auf die Heizung und nicke verständnisvoll.
Ich bin auch arm, sag ich bei mir: Ich kann nicht schlafen.
Kommentarfunktion ist geschlossen.