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Weihnachtsempfehlung von Susanne Stephan: „Über die Berechnung des Rauminhalts“ von Solvej Balle

Foto: Susanne Stephan
© Foto: Susanne Stephan

Zwischen Weihnachten und Drei Könige liegen die „zwölf heiligen Nächte“, auch „Rauhnächte“ oder „Innernächte“ genannt, in denen man besonders aufmerksam auf die eigenen Träume sein sollte. Denn in dieser Zeit, so die Legende, steht das Reich des Traumes und der Geister weit offen. Es sind aber auch Tage, in denen man, wenn das äußere Leben etwas zur Ruhe gekommen ist, sehr schön in Bücher abtauchen kann. Ich empfehle hierfür Über die Berechnung des Rauminhalts der dänischen Schriftstellerin Solvej Balle: ein Romanprojekt über (magische!) sieben Bände, von denen mittlerweile vier auf Dänisch erschienen sind, die ersten beiden auch auf Deutsch in der Übersetzung von Peter Urban-Halle. Balle erhielt für dieses Werk den Literaturpreis des Nordischen Rates 2022.

Ihre Erzählfigur Tara Selter, die mit alten Büchern handelt, erlebt, dass auf einmal die Welt am 18. November stehenbleibt. Auf den 18. folgt nicht der 19. – nein, der 18. beginnt wieder von vorn. Aber nur für sie ist es eine Wiederholung; weder ihr Mann noch ihre Eltern oder Bekannten erinnern sich daran, mit ihr am Tag zuvor über ihre merkwürdige Erfahrung gesprochen zu haben. Ihr bleibt nur, den „Rauminhalt“ dieses einen Tages zu erkunden; in Band II sucht sie den Winter, indem sie nordwärts, und den Frühling, indem sie wieder südwärts reist. Schließlich befindet sie sich im Rheinland und taucht anhand von Büchern und Museumsfunden in die Römerzeit ein, auch inspiriert von einer römischen Münze, die sie seit ihrer Entdeckung der Zeitschleife begleitet: „Ich folge den Bewegungen der Römer. Ich folge ihnen nach, wenn sie Straßen in der Landschaft anlegen. Ich folge ihnen zu den Grenzen, die sich Jahr um Jahr verschieben.“ Sie beobachtet die Kriege, erforscht den Alltag und den weiträumigen Handel, auch die Kunst der Glasbläserei, die sich im Römischen Reich ausbreitet, während sich dieses selbst „weitet wie ein Glas, das geblasen wird“. Bis es nicht mehr weiter geht. Dabei entdeckt Tara etwas, das sie zunächst „unheimlich“ findet: „Bei den Römern ist alles Gefäß.“ Nicht nur viele Alltagsgegenstände, auch die Häuser mit Atrium, die Tempel, das Pantheon gleichen nach oben offenen Gefäßen.

Sie selbst hat da bereits den Eindruck gewonnen, dass die Zeit ein „Behälter“ ist, „ein Tag, in den man hinabsteigen kann. Immer wieder.“ Denn: „Die Zeit fließt nicht, sie verhält sich ruhig, sie ist ein Bottich. Jeden Tag tauche ich in meinen Körper in den achtzehnten November. Ich bewege mich, aber nichts läuft über den Rand. Die Zeit ist ein Raum.“ Und warum, fragt sie sich, strebten die Römer nicht über den von ihnen errichteten Limes hinaus? „Sie hielten an und bauten eine Mauer. Weil sie nicht weiterwollten. Vielleicht wollten sie nur in einem Gefäß wohnen, mit Blick auf Himmel und Wolken.“

Foto: Susanne Stephan
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Als ich diese Reflexionen las, fiel mir ein Gefäß ein, das ich von meinen Großeltern geerbt habe und das bis jetzt im Keller stand. Sie erhielten es von einem befreundeten Archäologen, als sie in Jülich wohnten, das einmal eine bedeutende Siedlung an einer römischen Fernstraße von Köln zur Kanalküste gewesen war. Wahrscheinlich ist es römisch, wahrscheinlich eine Urne. Im Innnern entdecke ich einige Scherben, die nicht eingepasst werden konnten oder wieder abgefallen waren. Und ein interessantes Ding: eine Spinnwirtel. Bei Handspindeln sorgt sie für den richtigen Dreh. Die Zeit kann auch ein Webstuhl sein. Und bei mir ist die Spannung groß, wie Solvej Balle ihre originelle und beeindruckend facettenreiche Romanidee in Band III fortwebt, der im Mai auf Deutsch erscheinen wird.

Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I. Roman, 170 S. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
Über die Berechnung des Rauminhalts II. Roman, 191 S. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Beide Bände erschinen im Verlag Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2023

Die bibliographischen Angaben zur Bestellung im Buchhandel finden Sie hier

 

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