Menü

“Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst”…

Im Pflegezentrum Bethanien in Stuttgart-Möhringen fand auf Initiative des Schriftstellerhauses eine Veranstaltung unter dem Titel „DemenzPoesie“ statt. Die Fortbildung sowie die anschließende Session mit Erkrankten wurde vom Schriftstellerhaus im Rahmen des Projektes „Akte des Erinnerns“ vermittelt und finanziell übernommen, dank der Projektmittel des Innovationsfonds des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

Foto: Franz Himmel
Pauline Füg (links)und Henrikje Stanze, Foto: Franz Himmel

Pauline Füg und Henrikje Stanze, die das Konzept zu dieser Therapieform der Gedächtnisrehabilitation von Demenzkranken entwickelt haben, gaben zunächst einen Workshop für 23 Pflegekräfte des Pflegezentrums, um ihre Arbeitsweise vorzustellen und die Pflegekräfte eventuell zu animieren, auf diese Therapieform  bei den von ihnen zu betreuenden PatientInnen zurück zu greifen.

Pauline Füg, Diplom-Psychologin, Bühnenpoetin und Autorin, und Henrikje Stanze, Bühnenautorin und Diplom-Berufspädagogin mit Fachrichtung Pflegewissenschaften,  erläuterten vorab, was Demenzpoesie ist:
„Durch den sehr lebendigen Vortrag von Gedichten, die die Demenzkranken in ihrer Kindheit gelernt haben, werden die Teilnehmer einer DemenzPoesie®-Sitzung interaktiv und kreativ an Sprache und Rhythmus beteiligt. Hierbei werden  die Ressourcen des Langzeitgedächtnisses sowie die „phonologische Schleife“ genutzt. Wir erleben, dass sie aufblühen und an ihrer Umwelt teilnehmen. Erfinder dieser besonderen Art des kreativen Arbeitens mit Demenzkranken ist der amerikanische Poet Gary Glazner, mit dem wir eng zusammenarbeiten. In den USA finden seit 2004 regelmäßige Sitzungen (‚Sessions’) in Pflegeheimen statt und das Projekt findet dort viel Zustimmung und Förderer.
Mittels verschiedener Techniken (Call and Response, dem Gruppengedicht, Wiederholungen, Rhythmik, etc.) werden von den Leitern der Sitzung unter Einbeziehung der Teilnehmer Gedichte vorgetragen. Außerdem werden die Menschen mit Demenz angeleitet, selber kreativ werden und verfassen mit den Leitern der Session das sogenannte Gruppengedicht.“ (siehe:  demenzpoesie.blogspot.de

Demenzpoesie
Foto: Henrikje Stanze

Verschiedene Übungen vermittelten dem Pflegepersonal, wie man sich auf diese Form der Betreuung einstimmen kann. Basis sind Gedichte und Lieder, die Erkrankte in einem früheren Lebensalter gelernt und verinnerlicht haben. Rhythmus, Ausdruck, Modulation des gesprochenen Wortes sind bei dieser Therapieform zentral.

In der anschließenden Session griffen Pauline Füg und Henrikje Stanze im Kreis von 12 Erkrankten und einigen Angehörigen sowie Pflegekräften auf Gegenstände des Alltagslebens zurück, die vom Pflegezentrum zur Verfügung gestellt wurden, u.a. ein Schaukelpferd, ein altes Radio, eine Kaffeemühle, eine Kasserolle sowie einen Spätzleschaber. Im Gespräch mit den Erkrankten animierten Füg und Stanze die TeilnehmerInnen, sich an diese Dinge zu erinnern und vergangene persönliche Erlebnisse zu aktivieren. Gedichte über die Gegenstände aus dem Fundus unterstützen diesen Kommunikationsprozess, persönliche Ansprache, Berührung und positive Resonanz auf die Äußerung ließen eine für den Erkrankten sehr wohltuende und entspannende Atmosphäre entstehen. Ergänzend dazu wurden Lieder angestimmt, Rhythmen geklatscht.

Eine der beiden Leiterinnen notierte die Gedanken der Betroffenen und fasste die Gedanken zu einem Prosagedicht zusammen:

Radio

Ein Radio ließ mich überall was hören,
aus Stuttgart und aus der Schweiz,
die Sportsendung über den Stuttgarter Fußball.
Ich höre noch, wie wir gewannen.
Da kommt er von rechts, passt nach vorn,
eine Schwalbe und da –
TOOOOR!

Und wenn ich an dem Radio saß,
pfiff ich laut zur klassischen Musik
und hatte meine Platz in Ruhe auf dem Sofa daheim.

Ich hörte einfach alles an Musik,
Sport fand ich ziemlich öde,
doch am liebsten spielte ich mein eigenes Konzert auf dem Klavier,
so reiste ich gedanklich durch die Welt
begleitet von tosendem Applaus und
beiden Händen voller Schokolade
als Lohn für meine künstlerischen Klänge.

Wenn ich zum Konzert ging, trug ich schicke Kleider.
Meine fünf Schwestern machten alle Krach,
während sie beim Üben mit den Fingern auf die Tasten hämmerten.

Doch was man anfängt, das zieht man durch,
egal wie es für die Ohren klingt.

Einen Volksempfänger kenne ich sehr gut,
da saß ich als Kind sehr viel davor,
drum kenn ich viele Lieder,
die ich auf der Mundharmonika dann nachspielte.

Sonntags kam das Harfenkonzert,
ich hörte es,
wenn ich nicht gerade selbst im Chor sang.
Doch das Wichtigste bei alledem ist,
dass wir es gemeinsam machen,
denn nur so macht Teilen Spaß!

 

Die Leitung des Pflegedienstes im Pflegezentrum Bethanien,
Doris Wüstner, würdigte den Nachmittag mit Workshop und Session:

„Die beiden Referentinnen Frau Füg und Frau Stanze verstanden es meisterlich ihre wissenschaftlichen Grundlagen in Kürze den Anwesenden nahe zubringen.
Durch die praktischen Übungen,  das gemeinsame Spielen und Vortragen in der Gruppe wurden gute Voraussetzungen geschaffen mit  Lust an guter Wortkultur und persönlichen Ausdrucksformen weiterzuarbeiten.
Die Zeiteinheit mit den Angehörigen und Bewohnern war überwältigend, denn folgende Reaktionen konnten bei unseren Bewohner/innen nachziehen:
Müde – wurden wach, Sprachlosen wurde zum Ausdruck verholfen, Unruhige – wurden ruhig.
Das von Frau Stanze geschaffene gemeinsame Gedicht zum Schluss verlieh dieser Gruppe ein buntes Band der Zugehörigkeit!
Ein rundum gute und wertvolle Sache!“

Astrid Braun

Anstehende Veranstaltungen