Podcast-Folge 16: Odile Kennel über LUST und Lyrik

    Odile Kennel, Astrid Braun und Wolfgang Tischer bei der Podcast-Aufnahme
    Odile Kennel, Astrid Braun und Wolfgang Tischer bei der Podcast-Aufnahme

    Und da sitzen wir wieder vor dem Bildschirm und am Mikrophon. Wir nehmen unsere Podcastreihe „Aus dem Häuschen …“ wieder auf und beleben gleichzeitig ein Format, das wir nur wenige Male durchgeführt haben, nämlich unsere Reihe „Stip-Visite“. In diesem Veranstaltungsformat begrüßen wir ehemalige Stipendiat:innen, wenn sie eine neue Buchveröffentlichung haben oder sie die Sehnsucht nach Stuttgart und dem Schriftstellerhaus getrieben haben.

    Sie ist nicht nach Stuttgart gekommen, aber wir haben in dieser Podcast-Folge nach Berlin geschaltet, wo die Autorin und Übersetzerin Odile Kennel, Stipendiatin 2014, zuhause ist. Das trifft sich gut, weil Odile Kennel ein kleines, aber feines Büchlein geschrieben hat, das den prickelnden Titel „Lust“ trägt. Wir haben über diesen Band gesprochen, aber auch über die sonstigen Aktivitäten der Autorin, die in der letzten Zeit einige Übersetzungen von Lyrikbänden gemacht hat und damit auch der Lust gefrönt hat, den unterschiedene Sprachen in ihrem Kopf dabei zuzusehen, wie sie sich miteinander vergnügen …
    Das ist mal die etwas andere Umschreibung der Tätigkeit von Übersetzer:innen, aber auch  das von Dichter:innen allgemein. So heißt es in „Lust“: …“auch das Gedicht bettelt, will Sinne, will überquellen, will saftig sein, sich suhlen, spritzen, nicht herumsitzen, das Gedicht will, dass die Wörter ganz dicht aneinander heranrücken, sich aneinander reiben, einander hinterhersteigen ….“
    In dieser eher lustfeindlichen Zeit lassen wir die Gedanken doch besser tanzen, miteinander flirten, erfahren etwas über Odiles neuere Arbeiten und drücken ihr fest die Daumen, dass aus der geplanten Reise nach Chile im Dezember 2021 etwas wird.

    Odile Kennel: „Lust“. Edition Poeticon #16, Verlagshaus Berlin, Berlin 2021, 7,90 Euro

    Bonustrack:

    Im Podcast erwähnten wir nochmals das Gedicht von Odile Kennel über die Frisöre, die im Hinterhof des Schriftstellerhauses „sehr gerne beieinandersitzen…“.
    Als Stipendiatin schaute Odile von ihrer Wohnung im dritten Stock so manches Mal auf sie herunter. Als Lyrikerin war schnell klar, dass auch sie einer literarischen Würdigung bedürfen. Die überarbeitete Version des Gedichts hat sie dem Schriftstellerhaus nun überlassen.

    Frisöre verlangen ihre ganz eigene
    literarische Herangehensweise.
    Felicitas Hoppe

    Les coiffeurs demandent
    une approche littéraire particulière.
    Emmanuelle Pagano

    immer träume ich von blauen
    Kletterschuhen und einem Hof
    voller Frisöre. Die Frisöre
    rauchen, es sind viele, keine Ahnung,
    wovon sie reden. Dank der blauen Schuhe
    gelange ich hinunter in den Hof,
    ich setze mich zu den Frisören
    und rauche mit ihnen. Rauche
    schweigend, weil ich nichts
    über Frisörbelange zu sagen habe.
    Sie rufen Rapunzel und meinen
    nicht mich. Und weil Rapunzel
    jemand anderes ist und hier
    nicht wohnt, weiß ich nicht
    wie ich zurück nach oben komme.
    Die Frisöre fragen, was bedeutet
    tschatschen, ich antworte:
    tchatcher, ihr coiffeure!
    Kennt ihr das nicht? Jeden Morgen
    werde ich wach davon und weiß jetzt,
    sie lassen an niemandem
    ein gutes Haar, was hatte ich
    anderes erwartet? Sie ziehn
    an ihren Kippen, ich kipple
    auf meinem Stuhl, frage mich
    und die Frisöre, was Sigmund
    sagen würde zu meinen
    Kletterschuhen, warum
    sind sie blau, und was
    bedeuten Frisöre. Doch die Frisöre
    hören nicht zu, die Frisöre
    gehen zurück an die Arbeit.
    Und ich, ich sitze im Hof
    wie ein nasser Hund

    © Odile Kennel