Menü

Zu jedem Weg gehört ein Buch …. oder mehrere

Großes Lautertal Foto: Andrea Wurth
Großes Lautertal                           Foto: Andrea Wurth

Seit ein, zwei Wochen gehe ich mit Bernadine Evaristo bzw. mit Constanze Becker, die den Roman der Booker-Preisträgerin Evaristo auf Deutsch “Frau, Mädchen etc” eingelesen hat, über die Felder, durch den Wald und suche das Weite. Dabei fiel mir auf, dass ich inzwischen Abschnitte eines Hörbuches mit bestimmten Wegmarken, Streckenabschnitten meiner Wanderungen verknüpfe. Besonders intensiv sind die Verknüpfungen, wenn die Stimme der SprecherIn mir ersönlich angenehm ist. Eine Besprechung des Romans von Evaristo erfolgt vor dem Podcast mit Tanja Handels, der Übersetzerin, den wir im April aufnehmen.

Als ich zum Beispiel den ersten Teil des Romans von Don DeLillo “Die Stille” hörte, war ich im Körschtal bei Möhringen unterwegs, erklomm grad die Anhöhe zwischen dem ehemaligen Zillertal hoch nach Plieningen Richtung Garbe. Für eine gewisse Zeit war dieser Weg, gegangen an einem schönen, noch sonnigen Nachmittag, mit dem Beginn dieses dystopischen Romans über den totalen Stromausfall in New York während eines Superbowl-Finales verknüpft. Kollege Moritz Hildt hat den Roman im November letzten Jahres als Buchtipp empfohlen. Eingelesen hat den Roman in der deutschen Übersetzung von Frank Heibert die Sprechgröße Christian Brückner. Deshalb fallen hier drei Dinge zusammen, die Stimme, die Wahrnehmung der äußeren Natur sowie der Inhalt des Gehörten. Zu Beginn des Romans sitzt ein Ehepaar im Flugzeug von einem Urlaub in Frankreich zurück auf dem Weg nach New York. Der Ehemann blickt auf die Landkarte auf dem Display über seinem Sitz, auf dem ein kleines Flugzeug den Weg nachzeichnet, den das reale Flugzeug zurücklegt und die Zeit anzeigt, die das Flugzeug zurückgelegt hat und noch zurücklegen wird bis zum Ankunftsort. Der Mann denkt an die vergangenen Urlaubstage, beobachtet seine Frau, die neben ihm sitzt und eifrig in ein Journal ihre Eindrücke notiert. Zeugnisse, wie er vermutet, des Erlebten, während er über das Vergehen der Zeit und schon an die Fernsehübertragung des Superbowls denkt, die er hofft rechtzeitig und mit Freunden in seinem Zuhause zu erleben. Brückner mit seiner markanten, leicht rauen Stimme erzählt das gelassen, aber mit einer kleinen, kaum merklichen Unruhe und Irritation in der Stimme, natürlich denkt man auch an Robert de Niro, dessen Synchronstimme er ist. Also man hört de Niro zu, wie er auf ein Ereignis zusteuert, während sich die Umgebung der Spaziergängerin ganz langsam eindunkelt. Leichter Grusel. Diese Stimmung verbinde ich auf lange Zeit mit dem Weg, natürlich auch deswegen, weil der weitere Inhalt des dystopischen Romans die Tür zu einem weiten, unüberschaubaren Grauen, allerdings ohne Monster, öffnet. Das geht so lange bei Wiederholungen, bis ich den tiefen Eindruck überblende, weil ein neuer Inhalt sich über die  Wegstrecke legt, ein anderes Wetter, ein anderes Licht herrscht, andere Farben oder  Gegebenheiten wahrgenommen werden.

Deniz Ohde, "Streulicht" Foto: Astrid Braun
Deniz Ohde, “Streulicht”                Foto: Astrid Braun

Sehr gut in Erinnerung ist mir auch das wiederholte Hören von “Streulicht”, dem Roman von Deniz Ohde aus dem letzten Jahr, ein Roman, den ich gerne als einen der wichtigsten Bücher des letzten Jahres apostrophiere. Diesen Roman habe ich auf meiner persönlichen Immer-wieder-Rennstrecke erstmalig gehört, zu einer Stunde, in der dank einer diesigen Wetterlage schon so ein wenig das herrschte, was Ohde in ihrem Roman beschreibt: Streulicht. Marit Beyer hat es eingelesen, deren Stimme mir aus Veranstaltungen der Stuttgarter Literaturszene bekannt ist. Der Eindruck des Gehörten auf dieser Strecke ist lange geblieben und kann kaum überblendet werden, denn gleich mehrfach hat mich der Roman auf genau diesem Weg begleitet, diese melancholische Geschichte einer jungen Frau, die als Tochter eines Deutschen und einer türkischen Einwanderin sehr lange gegen Zuschreibungen anläuft, zwischendrin den Mut verliert, Angst hat, den Stempel des Migrantenkindes niemals loszuwerden. Der Roman ist eine sehr intensiv gearbeitete Auseinandersetzung mit Klassenschranken und der Mär der Chancengleichheit. Intensiv aber vor allem durch die sehr genauen Beobachtungen der kleinen Welt der Protagonistin. So genau habe ich selten eine Kleinbürgerwelt geschildert bekommen, nicht abfällig macht Ohde das, sondern mit großer Zärtlichkeit für Interieur und BewohnerInnen. Nach mehrmaligem Hören habe ich den Roman in gedruckter Form erworben, der Ritterschlag für ein Buch, es mehrfach zu besitzen, dann feststellen, dass die gehörte Fassung mir die liebste ist.

 

Anstehende Veranstaltungen