Das junge Schriftstellerhaus

Alba d’Alesio: “Die Box”

Alba d’Alesio                 Foto: Jan Münster

Die Box

Am Tisch sitzen mehrere Unbekannte. In ihrer Mitte eine Box. Ein Ticken, vielleicht von einer Uhr, hallt durch den weiten, kalten, vollständig aus weißem Mamor bestehenden Raum. Sonst ist es still. Niemand im Raum sieht den anderen in die Augen, alle starren sie auf die Box. Es ist eine relativ große Anzahl an Leuten, die sich hier an diesem kalten Wintertag versammelt haben und eine ungewöhnliche Mischung noch dazu. Alte, Junge, große oder gedrungene Männer und Frauen aller Herkunft, mit ausgemergelten Gesichtern oder fülligen Wangen, langen Hälsen oder gebeugten Rücken. Alle tragen sie weiße Kutten. Traurige, besorgte, misstrauische oder erwartende Augen – alle auf die Box gerichtet.

Zwei Personen in dieser Gruppe stechen trotz allem besonders ins Auge: Ein großer Mann mit selbstzufriedenem Lächeln und strahlend grauen Augen am Kopfende des ovalen Tisches, der die Box ansieht, als enthalte sie die Lösung all seiner Probleme. Er trägt eine aufwendig gearbeitete Schärpe und eine große, seltsame Medaille um den Hals. Die Augen des Mannes flackern immer wieder verräterisch, doch das fällt niemandem auf. Alle fixieren ununterbrochen die Box – alle bis auf einen kleinen, verängstigt wirkenden Jungen, etwa sechs Jahre alt, einige Plätze entfernt von dem Mann mit den grauen Augen. Er wirkt unruhig, als wisse er nicht genau, was vor sich geht. Sein kleines Gesicht ist ganz bleich und verschwitzt. Seine großen, neugierigen und etwas verwirrten Augen wandern immer wieder zu der Frau neben ihm, vermutlich seine Mutter. Die Hände hat er fest an die Armlehnen seines viel zu großen Stuhls gekrallt, als wollte er diese nie wieder loslassen, wobei sich seine Finger nicht berühren, so winzig sind sie. Minuten vergehen, doch es passiert nichts. Niemand regt sich, niemand sagt ein Wort.

Der kleine Junge fragt sich, ob er jetzt bis in alle Ewigkeit hier sitzen und diese Box anstarren muss. Er weiß nicht genau, auf was alle hier warten. Es scheint etwas in dieser Box zu sein, das man nur erahnen kann, wenn man eingeweiht ist. Natürlich hat niemand den kleinen Jungen eingeweiht. Nie erklärte ihm ein Erwachsener genau, was er wissen wollte. Er hat die Worte des Mannes vorhin gehört, doch genau verstanden hat er sie nicht. Der kleine Junge schätzt, es ist ungefähr eine Viertelstunde her, wenn nicht schon länger, seit der große Mann mit den grauen Augen am Ende des Tisches aufgestanden ist, seine Arme weit ausgebreitet und zu einer glorreichen Rede angesetzt hat: ,,Meine lieben Freunde, ich freue mich, dass wir uns alle an diesem besonderen Tag hier eingefunden haben. Ja, es ist so weit, er ist endlich hier. Der Tag der Erlösung ist endlich gekommen. Und der Inhalt dieser Box ist mehr, als wir uns je hätten erhoffen können.” Er streckte einen Arm in Richtung der Box, während er weitersprach: ,,Was sie enthält, ist für uns wertvoller als alles, was wir je besaßen. Sie wird uns zu unserem großen Ziel – zu unserem einzig wahren Ziel – verhelfen.” Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem Lächeln. Einem unheimlichen Lächeln, fand der kleine Junge. Der Mann fuhr fort: ,,In dieser Schachtel liegt unser Schlüssel zum Paradies. Es war ein langer, steiniger Weg bis hierhin, meine Lieben, das wisst ihr alle. Doch euer Warten hat ein Ende. Hier vor euch ist es! In dieser kleinen Box. Was wir ersehnten, wird eintreffen, was wir erhofften, wird sich erfüllen.” Während er das sagte, machte er eine seltsame Bewegung, die der kleine Junge jedoch zu spät wahrnahm, um zu erkennen, was sie zu bedeuten hatte. Schon waren die Hände des Mannes wieder erhoben und weit ausgebreitet. ,,Setzt euch nun mit mir, meine lieben Freunde, und zählt die Minuten bis zu eurer Erlösung. Euch werde vergeben sein und all eure Sorgen vergessen.” Er setzte sich wieder hin mit einem unheimlich zufriedenen Gesichtsausdruck, der dem Jungen ganz und gar nicht behagte. Er sah hinauf zu seiner Mutter, die seinen Blick für einen kurzen Moment erwiderte, ehe sie sich abwandte, um in die Mitte des Tisches zu schauen. Eine einzelne, stumme Träne rann ihr die Wange hinab.

Dem Jungen wurde klar, das hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Er spürte die Angst um sich herum, die Verzweiflung. Er versuchte sich loszumachen, doch er konnte nicht. Seine kleinen Hände waren festgezurrt, fest an die Armlehne gebunden, so fest, dass es weh tat. Er krallte seine Finger zusammen in dem Versuch, den Schmerz möglichst erträglich zu machen, und bemühte sich, es den anderen gleich zu tun und die Box anzuschauen. Was war in dieser Box? Sein Kopf war mit ansteigender Angst vernebelt und ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

So sitzt der kleine Junge seitdem einfach nur da und bemüht sich, sich trotz der Schmerzen und seiner Unruhe nicht allzu auffällig zu bewegen.

Das Ticken der Uhr, die der kleine Junge nicht sehen kann, hallt durch den weiten, kalten, vollständig aus Mamor bestehenden Raum, prallt von den Wänden, klingt nach, verzögert sich und wird verfälscht. Sonst ist es totenstill.

,,Meine lieben Freunde,’’ hatte der Mann sie vorhin genannt. ,,Freunde’’, denkt der kleine Junge. ,,Wir sind keine Freunde.’’ Seine Freunde sperrten ihn nicht in einen kalten Raum und fesselten ihn an einen Stuhl. Seine Freunde waren jetzt vermutlich draußen auf der Straße vor ihrem Haus oder auf dem Spielplatz an der Ecke, auf dem sie immer Räuber und Gendarm spielten. Wie gerne wäre der kleine Junge jetzt bei ihnen, weit weg von diesen seltsamen Erwachsenen, weg von der Stille, dem nervigen, erdrückenden Ticken, das ihn allmählich fast wahnsinnig macht, und weit weg von dem Mann und seiner Box. Der Junge sieht erneut zu der Box. ,,Sie sieht so klein aus”, denkt er.

Sein Blick schwingt hinauf zu dem großen Mann – dem Mann, der an all dem hier schuld ist. Er sitzt ganz entspannt da, seine grauen Augen hält er geschlossen. Er sitzt einfach nur da und hört zu. Hört dem Ticken zu. Er nimmt jedes einzelne Ticken genau war und nach jedem Ticken scheint er sich mehr zu entspannen. Tick. Tick. Tick.

Ein Schauer läuft dem kleinen Jungen über den Rücken und auf seinem Körper breitet sich eine Gänsehaut aus, als er begreift.

Begreift, warum er die Uhr nicht sehen kann, begreift, woher das Ticken kommt, begreift, dass es nicht von einer Uhr stammt. Er reißt seine Augen weit auf und starrt das Etwas auf dem Tisch an.

Ein Tier, das ihn jederzeit anspringen könnte. Wie viel Zeit bleibt ihnen noch?

Endlich versteht der kleine Junge die Angst um sich herum, die Angst seiner Mutter. Tick, Tick…

,,Aufhören“, denkt der kleine Junge. ,,Mach, dass es aufhört.’’

,,Bitte.”

Der Mann regt sich ein wenig. Der Junge starrt ihn an. Graue Augen starren zurück. Graue Augen sehen in ein angsterfülltes, kleines Gesicht.

Und dann hört es auf.

Ein Knall.

Die Decke des Raumes bäumt sich auf, zerspringt.

Eine Welle zieht durch ihn hindurch. Hinauf in den Himmel. Reißt alles mit sich.

Eine Welle aus Rauch, Feuer, Schmerz.

Sie hinterlässt nichts außer Trümmer. Große Marmorbrocken, Reste eines ovalen Tisches, Bruchstücke einer seltsam verformten Medaille.

Einen kleinen Körper mit geballten Fäusten.

© Alba D’Alesio. 2020

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