Wir blicken dieser Tage fast drei Monate auf die Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown in weiten Teilen Deutschlands. Unsere Vorstandsmitglieder haben notiert, was Ihnen in dieser erzwungenen Pause so durch den Kopf gegangen ist.
Heute schreibt Moritz Heger aus Stuttgart-Birkach:
Nächstes Jahr werde ich fünfzig.
Die Zahl klingt so nach Hälfte, dass es naheliegt zu glauben, es würde sich um die Hälfte des Lebens handeln. Natürlich weiß ich, dass das statistisch nicht stimmt. Aber Statistiken und Illusionen sind wie Eisbären und Pinguine, sie tun einander nichts. Nach Sigmund Freud leben wir alle mit der Illusion der Unsterblichkeit, können gar nicht anders. Ich denke: Ja, wir können nicht anders. Und deshalb ist der Aufruf, sich doch endlich von seinen Illusionen zu verabschieden – den wir, wohlfeil, meist an andere richten, selten an uns selbst –, im Grunde ein Aufruf, alle Hoffnung fahren zu lassen. Letzterer steht bei Dante überm Höllentor.
Gewitzt und witzig berechnet Wolfgang Tischer die Hälfte des Lebens in der Schriftstellerhaus-Anthologie An die Schwäne, die zu Hölderlins rundem Geburtstag erscheint. Es geht auf Mitte August, gut fünf Wochen sind es noch bis zur Präsentation unseres Buchs. Es ist schön geworden, so viel kann man schon sagen: Inhalt wie Gestaltung. Als wir beschlossen, uns dieses Projekt vorzunehmen, wusste keiner, was das für ein Jahr werden würde, wie wertvoll ein coronakompatibles Vorhaben 2020 ist. Wir haben Glück, damit jedenfalls.
In welche Hälften wird das Virus unsere Leben teilen? Das Leben unserer Gesellschaft? Wie werden wir danach davon sprechen? Wann wird das sein, danach?
Aufs eigene Leben können wir niemals vom Danach-Standpunkt aus blicken, obwohl nur er die exakte Berechnung der Mittellinie möglich machen würde. „Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben“, schreibt Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels. Wer könnte dagegen etwas einwenden? Aber wem macht das Mut?
Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr scheint es mir, dass in meinem Leben eine andere Halbierung mindestens ebenso wichtig ist: nicht quer, sondern längs. Seit Jahrzehnten führe ich ein Doppelleben als Autor und Lehrer. Ein Doppelleben mit unscharfer Grenze: Zum Beispiel wenn ich mit Schülern Theater mache, geht eins ins andere über. Immer mochte ich diese gleitenden Übergänge. Die Unschärfe dessen, was ich eigentlich bin. Ein Lehrer, der nebenher schreibt? Ein Schriftsteller, der als bloßer Brotberuf unterrichtet? Beides traf es nicht recht.
Dafür sind mir beide Anteile zu wichtig. In beiden – auch wenn das ein ausgelatschtes Wort ist – kann ich mich verwirklichen. Ja, auch im Lehrerberuf. Ich mache gute Erfahrungen damit. Selbst in Zeiten des Fernunterrichts kann man Achtklässler dafür begeistern, so lange an ihren Reportagen zu feilen, bis sie es auf die Jugend-schreibt-Seite der FAZ schaffen.
Ich bin wohl einfach ein Mensch des Sowohl-als-auch. Vielleicht (zu) unentschieden, doch wenn es läuft, fühle ich mich im Gleichgewicht. Vor ein paar Jahren aber geriet mein System aus der Balance. Machte ich mir nicht doch nur etwas vor mit dem Beharren darauf, auch Schriftsteller sein zu wollen? Die Zeit der Literaturpreise für Jüngere war für mich vorbei. Einen Roman hatte ich veröffentlicht, in einem Verlag mit gutem Namen und ohne große Reichweite, einen zweiten vermochte ich nicht nachzulegen. Als ich mich 2017 entschied, für den Vorsitz des Schriftstellerhauses zu kandidieren, war das auch ein Bekenntnis zu meiner künstlerischen Hälfte. Sie sollte nicht veröden. Ich hatte auch da noch etwas vor.
Nun freue ich mich sehr, in diesem Jahr der Unruhe und Unsicherheit auf etwas für mich Bedeutendes zuzusteuern: Ende Februar, kurz vor meinem runden Geburtstag, wird mein Roman Aus der Mitte des Sees bei Diogenes erscheinen. In hochsommerlicher Hitze sitze ich an den Fahnenkorrekturen.
2021 wird, auch für mich persönlich, ein aufregendes Jahr werden.