1978 in einer stürmischen Nacht an der wilden, dünnbesiedelten neuseeländischen Westküste: Das Auto einer englischen Familie stürzt über eine Klippe in die Tiefe. Die Eltern und das neugeborene Baby vorne im Auto sind sofort tot, die 3 älteren Kinder überleben auf dem Rücksitz. Zwei Tage und Nächte verbringen Katherine, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt ist und ihre beiden Brüder, der 14jährige Maurice und der 7jährige Thommy, am Ufer des Flusses, in den das Auto gestürzt ist. Als sie endlich gefunden werden, erfüllt sich ihre Hoffnung auf eine Rückkehr in die Zivilisation jedoch nicht: Der Mann, der sie entdeckt, nimmt sie mit auf eine Farm, die er gemeinsam mit einer Frau im abgelegenen Busch betreibt. Die Kinder kommen den Beiden als billige Arbeitskräfte gerade recht.
2010 erhält Suzanne einen Anruf aus Neuseeland: An der Küste, bei einer Möwenkolonie, sind menschliche Überreste gefunden worden, die eindeutig von ihrem Neffen Maurice stammen. Nachdem die Suche nach ihrer verschollenen Schwester und deren Familie bisher erfolglos geblieben war, ist dies das erste Zeichen, das ihr nach über 32 Jahren vielleicht Aufschluss über das Schicksal ihrer Angehörigen geben kann.
Ich habe schon mehrere Bücher von Carl Nixon gelesen und keines ist wie das andere. Allen gemein sind jedoch die eindrücklichen und poetischen Beschreibungen von Natur und Landschaft. In diesem Buch gilt das ganz besonders, denn die Natur, ungezähmt und rau, gleichzeitig aber auch von tröstlicher Schönheit, ist neben den Kindern und ihrer Tante eine wichtige Protagonistin der Handlung.
Empathisch und psychologisch präzise, erzählt Carl Nixon, wie sich die Kinder ganz unterschiedlich an die fremde Umgebung und ihr neues Leben anpassen, sich dabei aber immer mehr voneinander entfremden. Katherine entwickelt ein fast religiöses Gefühl für die Pflanzen- und Tierwelt und sieht mitunter auch Geister. Maurice hingegen sieht in der unwirtlichen Umgebung vor allem die unüberwindliche Barriere, die ihn von der Zivilisation fernhält. Thommy wiederum ist vollkommen eins mit der Umgebung und entfremdet sich den Menschen völlig. Die beiden Outlaws Martha und Peters verhindern zwar, dass die Kinder in die Zivilisation zurückkehren können, trotzdem werden sie mit allen Facetten ihrer Charaktere, auch den positiven gezeichnet. Für all das findet Nixon eine klare, poetische, manchmal auch ganz zarte Sprache.
Eingeschoben sind Abschnitte, die von der erfolglosen Suche Suzanne’s nach ihrer Schwester erzählen. Das spurlose Verschwinden der Familie verändert auch ihr Leben nachhaltig, erst die Nachricht vom Maurice‘s Tod kann für sie vielleicht einen Schlusspunkt setzen.
Für mich war dieser Roman ein eindrückliches Leseerlebnis. Neben der Sprache gefiel mir die geschickte Komposition der beiden Zeitebenen besonders gut: Der fließende, nicht chronologische Perspektivwechsel sorgt dafür, dass die Handlung nie vorhersehbar wird, obwohl wir als Leser:innen schon früh wissen, dass nicht alle Kinder überleben werden.
Carl Nixon, Kerbholz. Übersetzt von Jan Karsten. 304 Seiten, CulturBooks Verlag
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