Jana Bohle: „Begegnung“
Das Kreischen des Zuges auf den Gleisen zerriss ihm das Trommelfell. Zwei leere Augen blickten sich in der schmierigen Glasscheibe, auf der kleine Hände fettige Abdrücke hinterlassen hatten, an. Er saß an der Zugtür und ab und zu fuhr ihm ein leichter, kühler Luftzug über das blasse Gesicht. Er war ausgelaugt, wie jeden Abend und wollte nichts mehr, als einfach zu schlafen. Mit niemandem reden, niemanden sehen, einfach versinken in einen traumlosen dunklen Schlaf, um als ein anderer aufzuwachen und ein anderes Leben zu führen. Wie jeden Abend, saß er im ratternden, schreienden Zug und dachte daran, wie ekelhaft langweilig sein Dasein war. Er lebte in einer Spielzeugeisenbahn, deren Fenster und Türen verriegelt waren. Er war eben ein Mensch, der für das langweilige Leben bestimmt war. Ändern konnte er nichts; hätte er einen anderen Weg eingeschlagen, wäre er bestimmt genauso unzufrieden gewesen, wie jetzt. Mit diesem Gedanken, an den er selbst dennoch nicht so recht glaubte, versuchte er sich jeden Abend zu trösten.
Sein Blick löste sich vom Fenster, wanderte über die schmuddeligen Sitze und blieb bei der einzigen Passagierin, einer weißhaarigen Frau, ruhen. Sie saß gekrümmt (ihre Haltung erinnerte ihn an eine Schwimmnudel und dieser Gedanke hellte seine Laune für einen kurzen Augenblick auf) und kaute an ihren Fingernägeln (dies wiederum führte zu einer erneuten Verschlechterung seiner Stimmung). Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen, ihr Blick auf ihre Hände fixiert. Sie konzentrierte sich, war voll und ganz versunken ins Kauen der Fingernägel. Ab und zu spuckte sie das Abgekaute aus. Der Mann runzelte die Stirn und wollte sich über ihr Verhalten ärgern, aber es gelang ihm nicht wirklich. Statt Abneigung empfand er sogar ein wenig Sympathie. Und statt sich von der Frau abzuwenden, blieb sein Blick auf ihr haften. Er wunderte sich darüber, wie aufmerksam die Frau sich ihrer Betätigung hingab und er bekam Lust es ihr gleich zu tun, aber er hatte seine Fingernägel erst vorgestern geschnitten und als er versuchte an ihnen zu knabbern, musste er etwas enttäuscht einsehen, dass sie viel zu kurz waren.
Auf einmal sah sie auf und blickte ihm ins Gesicht. Ertappt und peinlich berührt wandte er die Augen ab, zurück auf das schmierige Fenster. Die seelenlose Stimme der Haltestellendurchsage kündigte die nächste Station an. Durch die Scheibe sah er, wie die Frau mit den weißen Haaren aufstand. „Sie geht“, dachte er und da war ihm plötzlich ein wenig traurig zu Mute. Er sah im Glas, wie die Frau ihren Rock glattstrich, auf ihn, in Richtung Ausstieg zulief und sich auf dem Sitz gegenüber von ihm niederließ. Erstaunt und erschrocken wandte er sich ihr zu. Ein Lächeln kräuselte sich auf ihren Lippen und eine ferne Erinnerung an einen Sommertag im Freibad, an die Reflexion des Wassers am Beckengrund, an Sonnencremegeruch und Zitroneneis und ein fröhliches und zugleich traurig klingendes Lied, dessen Titel er nicht mehr wusste, rief sich ihm blitzartig ins Gedächtnis und verschwand sogleich wieder. Er versuchte, sich seine schwitzenden Hände möglichst unauffällig an seiner Hose ab zu wischen und wusste nichts Besseres, als ein wenig verkrampft zurück zu lächeln. Er betrachtete sie. Sie hatte eine große Nase, schmale Lippen und sehr helle, ein wenig weit auseinanderliegenden Augen, die ihn aufmerksam anblickten. Sie roch nach Feuer und Himbeermarmelade. Mit kratziger Stimme begrüßte er sie und sie grüßte mit dünner Stimme zurück. Dann saßen sie sich still gegenüber, bis die seelenlose Haltestellendurchsage die nächste Station ankündigte, er sich ein wenig ungeschickt erhob und sich entschuldigte, da er jetzt gehen müsse, jedoch hoffe, sie wieder zu sehen, aus dem Zug stieg und diesem noch lange nachsah, als er schon längst von der Dunkelheit verschluckt worden war. Sein Dasein fühlte sich auf einmal weniger ekelhaft langweilig an.