Das junge Schriftstellerhaus

Sara Mahdi: “Ein Spaziergang im Regen”

Sara Mahdi ©privat

Sara Mahdi: “Ein Spaziergang im Regen”

Der Novemberwind heult und pfeift durch die leeren Londoner Straßen, gelbe, rote und braune Blätter liegen verstreut auf dem nassen Pflasterweg. Bei jedem Schritt ist das Rascheln der Blätter und das Klackern ihrer neuen Schuhe auf dem Steinboden hörbar.

Der Regen tröpfelt leise auf seinen schwarzen Regenschirm. Der Geruch angenehm in der Luft.

Aus den Augenwinkeln sieht er ein kurzes Blitzen und hört schon den vorangekündigten Donner in der Ferne. Neben ihm zuckt sie dabei zusammen und klammert sich automatisch fester an seinen Oberarm.

Eigentlich hat sie sich heute Morgen besonders gefreut, als der Regen seinen Duft verströmte und ihren Kopf mit schönen Erinnerungen füllte. Heute war ein besonderer Tag.

Trotzdem kann sie Gewitter und Stürme, die meistens treu den Regen begleitet, gar nicht leiden. Nicht nur bringen diese schlechte Erfahrungen und Erinnerungen mit sich, sondern erschrecken sie auch jedesmal zu Tode.

Als er zu ihr hinunterschaut und ihr offensichtliches Unbehagen bemerkt, schwingt er einen Arm um ihre Schultern und zieht sie näher an sich, dabei bekommt er ihr erneutes Aufzucken und den verkrampften Gesichtsausdruck nicht mit.

Dabei war doch alles still.

Gedankenverloren mit seinem Verlobungsring spielend bückt er sich und küsst sie auf die erstbeste Stelle, die ihm vor die Augen kommt. Ihre Schläfe.

Sofort kommt ihr die Alkoholfahne entgegen und versetzt sie zehn Jahre in die Vergangenheit zurück:

Ein heftiges Unwetter. Alkohol. Ihr Vater und seine besondere Liebe.

Sie versucht tapfer ihre Tränen zu unterdrücken, schaut ihn dabei an und schenkt ihm ein unsicheres Lächeln, das nur von einem Nicken erwidert wird. Sie lässt ihren Blick betreten zu den Rosen in ihrer Hand schweifen.

Nachdem er ihr den Ring angezogen hatte, drückte er ihr den Rosenstrauß – wenn sie die drei verwelkten, von einem braunen Band zusammengehaltenen Rosen überhaupt so nennen kann – in die Hand und zog sie regelrecht aus dem Restaurant hinaus, mit der lahmen Ausrede, es sei viel zu voll und er könne kaum noch atmen.

Sie freute sich trotzdem. Er war ein guter Mann.

Der Donnerschlag ist dieses Mal lauter. Sie greift instinktiv die Rosen fester, schreckt plötzlich leise auf und bleibt kurz stehen. Sie hat mit dem Daumen eine vergessene Dorne erwischt. Als er ungeduldig an ihrem Arm zieht, eine stumme Aufforderung, die sie allzu gut kennt, wirft sie noch einen letzten Blick auf ihren blutverschmierten Finger. Ein Blutstropfen fließt über ihr Handgelenk herunter und landet letztendlich in einer Regenpfütze.

Beim Umdrehen sieht sie gerade noch, wie der Blutstropfen sich im Wasser auflöst.

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